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„Der Meeresspiegelanstieg ist ein großes Problem“

Bis zur Sitzfläche in den Sand eingesunkene Strandkörbe in Scharbeutz (Schleswig-Holstein) im September 2020. Die Körbe stehen vor der Schutzmauer und sind daher nicht vor Hochwasserereignissen geschützt. (c) Foto: Frank M. Wagner
Bis zur Sitzfläche in den Sand eingesunkene Strandkörbe in Scharbeutz (Schleswig-Holstein) im September 2020. Die Körbe stehen vor der Schutzmauer und sind daher nicht vor Hochwasserereignissen geschützt. (c) Foto: Frank M. Wagner

Der Klimawandel ist nicht erst mit dem Einzug der Grünen in die Bundesregierung zum Topthema der politischen Agenda avanciert. Doch was bedeutet der vom Weltklimarat IPCC berechnete mittlere Anstieg des Meeresspeigels von 84 cm konkret für bekannte Küstenorte wie Travemünde und Timmendorfer Strand – und wie wird die Ostseeküste künftig gegen Hochwasser geschützt sein?

„Schleswig-Holstein, meerumschlungen“, heißt es in der Hymne des nördlichsten deutschen Bundeslandes. In Zeiten des Klimawandels geht die geographische Besonderheit der uns umgebenden Nord- und Ostsee natürlich mit einer gehörigen Portion Verantwortung einher. Dementsprechend hat das Land vor über 13 Jahren den „Landesbetrieb für Küstenschutz, Nationalpark und Meeresschutz“ (LKN) eingerichtet: Dessen Motto lautet: „Wir schützen Schleswig-Holsteins Küsten“. Konkret werden in der Behörde, die zum Umweltministerium gehört, Planungsgrundlagen für den Küstenschutz erarbeitet. Die dabei verwendeten sogenannten „Hochwassergefahrenkarten“ geben Aufschluss darüber, wie hart ein 20-, 100- oder gar 200-jährliches Hochwasser unter anderem die Lübecker Bucht treffen wird.

Lage in Scharbeutz und Timmendorfer Strand, Grömitz und Kellenhusen

„Im Bereich Scharbeutz und Timmendorfer Strand ist ja vor einigen Jahren eine Hochwasserschutzmauer in die Düne gebaut worden [siehe Foto ]beziehungsweise es wurde Sand darüber geschüttet, vereinfacht ausgedrückt“, sagt Dr. Thomas Hirschhäuser, Leiter des Geschäftsbereichs Gewässerkunde & Vorarbeiten Küstenschutz beim LKN. Darin enthalten sind Verschlüsse, sogenannte Stöpen, die ab einem bestimmten Wasserstand dann geschlossen werden können. Diese Anlagen bieten einen ausreichenden Schutz. „In unseren Hochwassergefahrenkarten ist gekennzeichnet, dass das Schutzniveau mit dem eines Landesschutzdeiches vergleichbar ist. Das Gleiche gilt übrigens auch für die Klosterseeniederung zwischen Grömitz und Kellenhusen.“

Der erwähnte „Landessschutzdeich“ bietet den besten Schutz vor einer ansteigenden Ostsee, die auf das Festland drängt. Denn dieser Deich, beziehungsweise auch andere Schutzanlagen auf dessen Niveau, halten einem 200-jährlichen Hochwasser stand. Und das liegt heute ungefähr bei 2,50 Meter über dem mittleren Meeresspiegel. Für das Jahr 2100 wäre hierzu noch der mittlere Meeresspiegelanstieg bis dahin zu addieren.

Das heißt: Flächen, die hinter einem Landesschutzdeich oder einer in der Wirkung vergleichbaren Hochwasserschutzmauer liegen, sind vor einer Überschwemmung sicher. Die in Diskussionen vielfach zitierten Horrorszenarien bleiben also dementsprechend aus: Hier wird kein Strandrestaurant fortschwimmen, kein Spielplatz ins Meer abgleiten, kein Haus plötzlich direkt an der Ostsee stehen, obwohl es vorher noch nicht einmal in Sichtweite lag. Klar ist allerdings auch: Gegenstände, die sich vor einem Landesschutzdeich befinden, könnte es hart treffen. Kommt das Extremhochwasser während der Saison, dürften die ungeschützten Strandkörbe beschädigt werden oder gar in der Ostsee verschwinden. Einen ganz kleinen Vorgeschmack dazu gab es unter anderem am 17. September 2020, als etwa in Scharbeutz zahlreiche Strandkörbe aufgrund von Hochwasser fast bis zur Sitzfläche in den Strand einsanken, siehe Foto.

Damit die Flächen hinter den Deichen gesichert bleiben, kommt es darauf an, dass die Sicherungsanlagen in gutem Zustand sind oder wo nötig ausgebessert werden. Im kommenden Jahr erscheint der „Generalplan Küstenschutz 2022“. Dazu wurden alle Landesschutzdeiche einer genauen Sicherheitsüberprüfung unterzogen. Auch die Regionaldeiche, die kleinere oder landwirtschaftlich genutzte Flächen schützen und für die zumeist die Wasser- und Bodenverbände verantwortlich sind, wurden begutachtet.

„Wir prüfen dabei, ob es bei einem 200-jährlichen Hochwasser mit entsprechendem Sturm und Wellen zu einer Überströmung des Deiches kommt und ob dieser dann von hinten erodiert“, erläutert Hirschhäuser die Definition für das Versagen eines Deiches. „Wird dieses Kriterium erfüllt, sieht der LKN für Deiche in Landeszuständigkeit Verstärkungsbedarf, der dann im Generalplan festgehalten wird. Hier werden wir in den nächsten Jahren auch tätig werden.“ Für Regionaldeiche müssen die zuständigen Wasser- und Bodenverbände eigenständig entscheiden, welche Konsequenzen sie aus dem Ergebnis der Sicherheitsüberprüfung ziehen.

Fehmarn

Auf Fehmarn ist das Land Schleswig-Holstein ausnahmsweise auch für die Regionaldeiche zuständig. Dort, wo auf der Halbinsel Siedlungen geschützt werden, ist ein ausreichender Hochwasserschutz vorhanden. „Grundsätzlich gilt: Wo das Land zuständig ist, haben wir die Situation sehr genau im Blick“, betont Wissenschaftler Thomas Hirschhäuser.

Die kommenden Jahrzehnte

Die Schutzwirkung ist im Falle der Landesschutzdeiche aktuell also entweder vorhanden oder wird in Einzelfällen vom LKN jeweils wieder hergestellt. Und die Behörde kalkuliert bereits jetzt für künftige Generationen, die die Deiche gegebenenfalls weiter aufstocken müssen. Es gilt das Konzept des „Klimadeichs“. Bedeutet: Bei einer Deichverstärkungsmaßnahme erhöht der LKN den Deich nicht nur, sondern gestaltet auch dessen Krone breiter. Hintergrund ist, dass heute noch nicht exakt abschätzbar ist, wie groß der Meeresspielanstieg später tatsächlich sein wird. Stellt man in den kommenden Jahrzehnten fest, dass er stärker ausfällt, als man dies heute annimmt, können spätere Generationen einfach eine Kappe auf die verbreiterte Deichkrone aufsetzen. Dementsprechend muss man den Deich heute noch nicht höher bauen als nach dem aktuellen Wissensstand notwendig, sondern vielmehr die Grundlagen dafür bereiten, dass er in Zukunft aufgestockt werden kann.

Wer muss für den notwendigen Schutz sorgen?

Grundsätzlich gilt: Küstenhochwasserschutz ist Aufgabe derjenigen, die einen Vorteil davon haben. An der Ostseeküste gilt allerdings auch die Ausnahme: Da, wo größere Niederungen betroffen sind, etwa bei der Klosterseeniederung oder nördlich von Kiel die Probstei, hat das Land die Verantwortung übernommen. Ansonsten sind neben den Wasser- und Bodenverbänden für die kleineren und landwirtschaftlich genutzten Flächen die Kommunen wie Lübeck, Kiel, Eckernförde, und Flensburg jeweils für ihre urbanen Bereiche zuständig. Touristische geprägten Orte wie Timmendorfer Strand und Scharbeutz zeichnen für ihre jeweiligen Gebiete verantwortlich.

Wer soll das bezahlen?

Die Ortschaften stehen mit der Finanzierungsfrage nicht allein da. Es gibt eine hohe Förderquote des Landes Schleswig-Holstein, den Löwenanteil braucht die kommunale Kasse also nicht zu leisten. Auch Co-Finanzierungsmittel von Bund und EU werden für die Aufgabe mitgenutzt. Finanziell unterstützt wird dabei aber nur, was funktional notwendig ist. Wenn es dann auch noch hübsch aussehen soll, dann sind das Kosten, die auf die jeweilige Gemeinde zukommen. Ein Beispiel dafür wäre etwa eine attraktive Hochwasserschutzmauer aus Glas.

Wer sich selbst ein detailliertes Bild der Situation für seinen Wohnort in der Lübecker Bucht für die nächsten 20, 100 oder 200 Jahre machen möchte, der kann dies über die entsprechenden Hochwassergefahrenkarten des Landes Schleswig-Holstein tun: zebis.landsh.de/webauswertung/  Daneben erlaubt das „Coastal Risk Screening Tool“ des Anbieters Climate Central den Nutzern zu überprüfen, welche Auswirkungen ein globaler Temperaturanstieg von 1,5 Grad Celsius oder sogar von 2,5 Grad Celsius auf die Küsten der Region hierzulande und im Rest der Welt hat:
https://coastal.climatecentral.org/

Frank M. Wagner

Baerbock: „Bei erneuerbaren Energien nur Mittelmaß“

Annalena Baerbock war lange klimapolitische Sprecherin der Grünen im Deutschen Bundestag. Als damalige Oppositionspolitikerin ärgerte sie sich, dass die schwarz-rote Bundesregierung die Ergebnisse des Pariser Klimagipfels  nicht umsetzte.                                                                                                               

Frau Baerbock, Angela Merkel gilt ja als „Klimakanzlerin“. Wie beurteilen Sie die Klimapolitik der Bundesregierung?

Annalena Baerbock, klimapolitische Sprecherin Bündnis90/Die Grünen im Deutschen Bundestag
Annalena Baerbock, klimapolitische Sprecherin Bündnis90/Die Grünen im Deutschen Bundestag. Foto: Frank M. Wagner

Derzeit ist die Klimapolitik der Bundesregierung einfach nicht wirklich existent. Es reicht eben nicht, bei der Klimakonferenz in Paris zu verkünden, man habe ein historisches Abkommen geschlossen und dann zu Hause die Hände in den Schoß zu legen. Von der Umsetzung der Paris-Ergebnisse haben wir bislang gar nichts gesehen.

Sie machen Ihre Kritik daran fest, dass auch drei Monate nach dem Pariser Gipfel noch nichts passiert ist?

Meine Kritik bezieht sich vor allem auf die Diskrepanz zwischen Worten und Taten und dem Desinteresse großer Teile der Regierung. Nach so großen internationalen Konferenzen, die dann auch noch als historisch bezeichnet werden, gibt’s normalerweise danach eine Debatte dazu im Bundestag: was folgt nun daraus. Doch die Regierungsfraktionen setzen die gar nicht erst auf. Das haben dann stattdessen wir Grüne gemacht. Doch außer der Umweltministerin Hendricks war kein einziger anderer Minister anwesend. Das zeigt, dass die Bundesregierung nicht verstanden hat beziehungsweise es nicht umsetzen will, dass Klimaschutz eine Querschnittsaufgabe ist, die selbstverständlich auch die Minister für Wirtschaft, Landwirtschaft, Verkehr und Finanzen angeht.

Sie sprechen von einer Querschnittsaufgabe. Tatsächlich bremst Wirtschaftsminister Gabriel Umweltministerin Hendricks immer wieder aus, etwa indem er klarstellt, es eine Illusion sei zu glauben, dass Deutschland gleichzeitig aus der Kernkraft und der Kohle aussteigen könne.

Der Vergleich ist absurd und es ist traurig, dass mit solchen Unterstellungen gearbeitet wird. Der Atomausstieg bis zum Jahr 2022 ist Konsens bei allen: Kein Mensch – und selbst die Umweltverbände nicht – fordert, bis 2022 zeitgleich aus der Kohle auszusteigen. Es geht um einen schrittweisen Kohleausstieg analog zu den Klimazielen. Auf diesen schrittweisen Ausstieg aus fossiler Energie hat man sich in Paris auch verständigt, sonst hätte man den Klimavertrag nicht schließen müssen. Und deswegen ist es einfach unredlich, so zu tun, als hätte das alles nichts miteinander zu tun. Die Frage ist nicht „ob“ Kohleausstieg, sondern „wie“ wir diesen Prozess gestalten. Und je stärker man sich als Regierung oder auch als Unternehmen diesem Dialog verweigert, desto härter wird es für die betroffenen Regionen, die Beschäftigten und für die von Umsiedlung bedrohten Menschen.

Es gibt etwa in der Lausitz ja Anträge auf weitere Tagebaue, obwohl die gewonnene Kohle jetzt bis in die 30er Jahre hineinreicht und Deutschland dann ohnehin aus der Kohle aussteigen müsste, wenn es seine Klimaverpflichtungen erfüllen will.

Ja, und die Landesregierungen von Brandenburg und Sachsen haben die Anträge auf weitere Tagebaue im ersten Schritt auch genehmigt. Das heißt, man will heute Menschen umsiedeln, damit im Jahr 2040 noch Kohle abgebaggert werden kann. Das konterkariert alle Klimaziele, die wir jemals als Bundesrepublik beschlossen haben. Auch die großen Energieversorger halten ein solches Vorgehen für kein tragfähiges Modell mehr. Nicht ohne Grund haben sich nur zwei Unternehmen überhaupt als Nachfolger für Vattenfalls Kohlegeschäft in der Lausitz angeboten.

Ursache für solche Entscheidungen ist vermutlich die Tatsache, dass Klimaschutz abstrakt ist und sich nicht unmittelbar, sondern erst in den nächsten Generationen auszahlt.

Ja, das ist ein zentrales Problem. Selbst wenn wir nur ein Jahrhunderthochwasser alle zehn Jahre haben, ist der Klimawandel für viele – und auch für die Bundesregierung – einfach zu abstrakt, zu weit weg. Und Klimaschutz zahlt sich eben auch nicht innerhalb einer Legislatur von vier Jahren aus, in der viele Politiker oftmals denken.

Bündnis 90/Die Grünen war ja von 1998 bis 2005 selbst in der Regierungsverantwortung. Was haben Sie denn in dieser Zeit im Klimaschutz erreicht?

Die klimapolitische Sprecherin von Bündnis90/DieGrünen macht sich für erneuerbare Energien stark. Foto: Frank M. Wagner
Die klimapolitische Sprecherin von Bündnis90/DieGrünen macht sich für erneuerbare Energien stark. Foto: Frank M. Wagner

Wir Grüne haben in der Regierungszeit die Energiewende an den Start gebracht und das ist ja einer der zentralen Beiträge zum Klimaschutz. Der Einstieg in die erneuerbaren Energien diente im ersten Schritt dem Ausstieg aus der Atomkraft, aber es beinhaltete natürlich auch den Ausstieg aus den anderen fossilen Energien wie Kohle, Öl und Gas. Und all diejenigen, die sagen „Das kommt jetzt so plötzlich!“, sollten sich mal daran erinnern, dass das EEG jetzt 16-jähriges Bestehen feiert. Und mit dem Einstieg in das EEG war klar, dass wir schrittweise aus den Fossilen herausgehen. Denn es macht ja gar keinen Sinn, Strom aus Wind, Sonne, Biomasse und Wasserkraft zu erzeugen, wenn man nicht im gleichen Zug Kohle und Atomkraft entsprechend zurückfährt. Das war wirklich ein großer Schritt, den die rot-grüne Regierung da gegangen ist. Das Fatale ist, dass dieser Schritt, der nun ja weltweit stattfindet, von der aktuellen Regierung knallhart ausgebremst wird. Das größte Desaster für den deutschen Klimaschutz ist, dass die Attacken auf das EEG immer größer werden.

Nun gibt es ja Klimaleugner, die sagen, den Klimawandel gab es schon immer und sei auch der Grund dafür, dass wir hier eben aktuell keine Eiszeit mehr haben.

Die Klimaleugner verwechseln Wetter mit Klima und sagen gerne, es sei doch prima, wenn es mal ein wenig wärmer würde. Aber worauf es ankommt, sind die Veränderungen in der Atmosphäre über die letzten Jahrhunderte und zwar global. Und da sieht man ganz deutlich den Temperaturanstieg, vor allem seit der industriellen Zeit. Und dass es im globalen Durchschnitt (nicht nur in Deutschland) zu einer Erwärmung gekommen ist, ist einfach nicht wegzudiskutieren, sondern in der Klimawissenschaft eindeutig bewiesen.

Manche halten den Klimaschutz in Deutschland für Unfug, da die klimapolitische Bedeutung des Landes auch aufgrund seiner Größe doch eher gering sei.

Deutschland ist eine der führenden Industrienationen, deswegen ist unser Beitrag enorm. Wenn man nach Europa schaut, muss man feststellen, dass von den fünf europäischen Kraftwerken mit dem höchsten CO2-Ausstoß vier in Deutschland stehen. Das heißt, unser Beitrag ist innerhalb Europas und auch der Welt nicht kleinzureden. Da hilft es auch nicht zu sagen: „Die Chinesen haben mehr Menschen.“ Klar, die müssen sich natürlich auch im Klimaschutz engagieren. Deswegen ist der Pariser Klimavertrag auch so wichtig. Da hat sich die Weltgemeinschaft verpflichtet, dass jeder seinen Beitrag leisten muss. Wir können nicht mehr sagen: Die anderen müssen und wir nicht. Alle müssen was tun. In Paris wurde übrigens auch klar: Diejenigen, die am intensivsten an der Umsetzung des Vertrages mitarbeiten, werden am Ende auch den wirtschaftlichen Vorteil haben.

Stichwort „Wirtschaftlicher Vorteil“: Der Unterschied zwischen der gescheiterten Klimakonferenz in Kopenhagen 2009 und Paris 2015 liegt im Wandel der Erneuerbaren: In Kopenhagen hatten noch viele Staaten erklärt, dass die Energiewende zu teuer sei. Diese Einstellung hat sich mittlerweile verändert.

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Absolut. Ein Viertel der weltweiten Stromnachfrage wird durch erneuerbare Energien gedeckt. Wir Deutsche waren mal führend, sind nun aber ins Mittelmaß abgerutscht. Bei uns liegt der Anteil bei rund 30 Prozent Erneuerbare im Strom, Italien hat über 40 Prozent, Regionen wie Costa Rica oder Neuseeland liegen bei fast 100 Prozent, selbst China hat uns überholt. Das heißt, es ist nicht nur eine ökologische, sondern auch eine ökonomische Frage, ob wir als Deutsche, das, was wir vor zehn Jahren in Form von Technologieförderung ja auch maßgeblich mitfinanziert haben, nun auch ernten. Oder ob wir die Rolle rückwärts machen – zulasten unserer Volkswirtschaft.

Was erwarten Sie jetzt eigentlich beispielswiese im Bereich Elektroautos von der Bundesregierung?

Eine Anreizpolitik, etwa ein Zuschuss beim Kauf eines Elektrofahrzeugs, ist ein erster richtiger Schritt. Aber eben nur ein erster. Die Bundesregierung muss der deutschen Automobilindustrie – gerade im Lichte des Abgasbetrugs – vielmehr unmissverständlich klar machen, dass sie sich generell umzustellen hat. Wenn wir die Klimaziele ernst nehmen, dann müssen wir in den nächsten 20 Jahren auch raus aus den fossilen Verbrennungsmotoren. Und wenn es der Bundesverkehrsminister nicht tut, dann macht es der Bürgermeister von Shanghai oder einer anderen chinesischen Großstadt.

Wie meinen Sie das?

Die Bewohner chinesischer Großstädte leiden ja massiv unter der katastrophalen Luftverschmutzung, daher muss die Regierung etwas tun. Millionen Autos, deren Abgasausstoß zu hoch war, wurden bereits aus dem Verkehr gezogen. Und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis der erste smoggeplagte Bürgermeister jegliche fossile Verbrennungsmotoren aus der Stadt verbannt. Und das wird dann auch ein Riesenproblem für die deutsche Exportpolitik im Automobilbereich. Also auch daher ein ganz heißes Thema für den Wirtschafts- und auch Verkehrsminister, wenn man volkswirtschaftlich vorne sein will. Wir haben dies ja schon bei den Hybridfahrzeugen erlebt, dass die deutsche Automobilindustrie den Trend verpasst hat und Toyota und andere Firmen die Nase vorn haben.

Halten Sie es für realistisch, dass ein chinesischer Bürgermeister ein Verbot für fossile Verbrennungsmotoren ausspricht und ein deutscher Fahrzeughersteller dann Probleme bekommt?

Ja, absolut. Im Moped- und Motorradbereich wurde damit schon begonnen, dass nur noch Elektrofahrzeuge in die Städte hineinfahren dürfen. Und der nächste Schritt sind die Autos. Es ist nicht immer der Klimaschutz, um den es dort geht. Es gibt vielmehr das Problem, dass Menschen nicht ohne Mundschutz auf die Straße können und die Kinder in den Städten keinen blauen Himmel kennen. Deswegen muss gehandelt werden. Und natürlich trifft das dann auch deutsche Automobilhersteller. China ist seit Jahren der größte Absatzmarkt deutscher Fahrzeughersteller. Etwa die Hälfte des gesamten VW-Gewinns stammt aus China. Die Frage ist, wie lange das so bleibt, wenn VW nicht die Zeichen der Zeit erkennt.

Interview: Frank M. Wagner

„Wir schützen keine Steilufer“

Es ist längst eine Tatsache: Die Erderwärmung wird teils drastische Konsequenzen haben – nicht nur an Ahr und Erft, sondern auch an den deutschen Küsten. Denn der Meeresspiegelanstieg ist ein großes Problem für den Küstenschutz: Legt man den derzeitigen Stand im Bereich der Hochwasserschutzmaßnahmen zugrunde, würde bekannte Ostsee-Urlaubsorte bei einem 100- oder 200-jährlichen Hochwasser massive Problem bekommen. Auch für das Brodtener Steilufer in Schleswig-Holstein sieht es nicht gut aus.

Frank M. Wagner

Es ist noch nicht so lange her, als Anfang Februar 2021 ein kräftiger Ostwind der Stärke sieben bis neun Beaufort den Pegelstand in Travemünde schnell ansteigen ließ. Die Polizei musste die Bürger auffordern, ihre Autos aus der Gefahrenzone zu bringen. Und auch Mitte Oktober 2020 wurden Teile der Promenade in Travemünde überflutet, das Hochwasser der Trave stieg dort und in Lübeck auf gut 6,26 Meter. Der normale Wasserstand liegt laut Wasserstraßen- und Schifffahrtsamt bei fünf Metern.

„Viel Sand, der bei Hochwasser in Richtung der winzig wirkenden Spaziergänger unten rechts
abgetragen werden könnte“: Das Brodtener Steilufer bei Lübeck © Foto: Frank M. Wagner

Das Problem: In Travemünde gibt es keine technischen Hochwasserschutzeinrichtungen, wie der Landesbetrieb für Küstenschutz, Nationalpark und Meeresschutz (LKN) in Husum mitteilt. In den sogenannten „Hochwassergefahrenkarten“ [siehe Grafik anbei oder: zebis.landsh.de/webauswertung/] sind daher sogenannte „Betroffenheiten“ für ein 200-jährliches Hochwasser zu erkennen.

Einer, der bereits jetzt schon die eine oder andere Hochwasserbetroffenheit in Travemünde erlebt hat, ist Andreas Mitgutsch, Inhaber des Lübecker Teekontors in der Alten Vogtei in der Vorderreihe. „Das Wasser stand hier zuletzt bis zur obersten Treppenstufe“, sagt er und deutet auf den Eingangsbereich seines Kontors [siehe Foto]. Aktuell bemüht Mitgutsch sich um eine Elementarschadenversicherung und zeigt sich durchaus überrascht, dass der Abschluss einer solchen Versicherung in dieser Lage tatsächlich möglich ist. Zwei Gedenksteine in der Außenmauer des Teekontors markieren den Hochwasserstand aus dem Jahre 1625 und vom bislang schwersten bekannten Ostseesturmhochwasser von 1872. Die aktuell draußen aufgebauten Tische sind etwas niedriger als die Markierungen, das darauf servierte Essen wäre damals also weggeschwemmt worden. Und die Gefahr für noch mehr Hochwasser, das in Zukunft in die Vorderreihe strömt, ist hoch.

Lübeck wird ähnlich wie Kiel und Eckernförde in den kommenden Jahren die eine oder andere Hochwasserschutzmaßnahme vornehmen müssen, um sich auf den steigenden Meeresspiegel einzustellen. Auch der Priwall ist nicht durch eine Hochwasserschutzanlage geschützt. „Das heißt“, sagt Dr. Thomas Hirschhäuser vom LKN, „hier werden die niedrigeren Flächen dann auch überflutet. Randlich ist dementsprechend auch Bebauung betroffen.“ Also eine ähnliche Situation wie bei der Alten Vogtei in der Vorderreihe.

Andreas Mitgutsch, Inhaber des Lübecker Teekontors in der Vorderreihe zeigt auf die oberste Stufe seines Eingangs, bis zu der das Wasser zuletzt gekommen ist.“ © Foto: Frank M. Wagner

Was tut Lübeck?

Dass zum Schutz der Menschen, Gebäude, der Promenade und der Straßen etwas getan werden muss, weiß man natürlich auch in der Hansestadt Lübeck. Bislang gibt es in Travemünde „Objektschutzmaßnahmen“, also mobile Schutzmaßnahmen an Gebäuden entlang der Vorderreihe. Die Pressesprecherin der Hansestadt Lübeck, Nicole Dorel erklärt die derzeitige Situation an der Ostsee und in der Stadt: „Durch den Trichtereffekt der sich von Travemünde in Richtung Innenstadt verengenden Trave sind die Schwankungen des Wasserstands in der Altstadt meist größer als direkt an der Küste. Daher ist in der Lübecker Altstadt regelmäßig die Überflutung von Straßen zu beobachten. Die Menschen sorgen dort wie auch in Travemünde mit Hilfe von Dammbalkenverschlüssen vor und sichern so ihre Häuser.“

Bürger über Überflutungsrisiken informieren

Diese individuelle Vorsorge bei Überflutungsrisiken sei gesetzlich verankert. Da jedoch viele Bürgerinnen und Bürger nicht darum wüssten, ist die Hansestadt Lübeck seit Herbst 2021 Praxispartner im Forschungsprojekt „Komm.Flut.Ost“. Dorel: „Ziel des Projektes ist es, eine Kommunikationsstrategie zu entwickeln, um die Bürgerinnen und Bürger über die Überflutungsrisiken zu informieren und Anpassungsmöglichkeiten aufzuzeigen: Dies soll durch öffentlichkeitswirksame Informationsveranstaltungen ergänzt werden, die wahrscheinlich in 2022 starten werden.

Klimaanpassungskonzept der Lübecker Bürgerschaft

Doch die individuelle Vorsorge kann natürlich nur einen kleinen Teil der Maßnahmen darstellen, die im Hinblick auf die Folgen des Klimawandels und den daraus resultierenden steigenden Meeresspiegel in Travemünde wichtig sind. Dementsprechend ist die Hansestadt Lübeck seit Sommer 2021 Praxispartner im Forschungsprojekt „SEASCApe II“. Darin untersuchen die Forschungspartner der Universitäten Kiel und Rostock sowie des „Global Climate Forums“ in Berlin anhand von Lübeck die zukünftigen Hochwasserrisiken und möglichen Anpassungsmaßnahmen. Dorel: „Die Teilnahme an dem Forschungsprojekt ist ein wichtiger Baustein zur Umsetzung der Maßnahme M 11 „Gefahren durch Ostseehochwasser für bebaute Bereiche analysieren und eine Anpassungsstrategie entwickeln“, die im Klimaanpassungskonzept definiert wurde“. Die Lübecker Bürgerschaft hat dieses Anpassungskonzept im September 2020 beschlossen. Heißt: Die aktuelle Situation und die notwendigen Maßnahmen haben Politik und Verwaltung also durchaus im Blick.

Gefahr für das Brodtener Steilufer

Doch zurück an den Ostseestrand nach Travemünde beziehungsweise etwas nördlich davon: an das Brodtener Steilufer. Dieses ist durch den Klimawandel und den dadurch bedingten Anstieg des Meeresspiegels besonders gefährdet. Die Lage ist hier ganz anders als in den bekannten Touristenhochburgen. Für diese gilt grundsätzlich: Timmendorfer Strand, Scharbeutz, Grömitz und Kellenhusen sind durch qualitativ hochwertige Landesschutzdeiche bzw. vergleichbare Maßnahmen gut geschützt und halten auch ein 200-jährliches Hochwasser aus. Dieses liegt heute bei ungefähr 2,50 Meter über dem mittleren Meeresspiegel.

Aber was passiert, wenn das Hochwasser der Ostsee ein Steilufer ins Visier nimmt? „Wenn die Wellen dort für Erosionen sorgen und das Steilufer erodieren, dann ist es weg und wird zur Sandquelle für angrenzende Gebiete. Das erleben wir beispielsweise am Brodtener Ufer: Der Sand, der dort erodiert wird, gelangt im Anschluss Richtung Timmendorfer Strand und nährt dort die Strände. Dementsprechend schützen wir keine Steilufer, sondern nehmen die Erosion in diesem Bereich hin“, gibt Thomas Hirschhäuser zu bedenken.

Der LKN will Bebauungen entlang von Steilufern und auch aus Hochwasserrisikogebieten heraushalten, um an diesen Orten nachhaltig zu sein. Es gehe darum, in denjenigen Bereichen keine Werte anzuhäufen, von denen man wisse, dass sie in Zukunft nicht mehr wie jetzt existieren. Dementsprechend wird man beispielsweise bei touristischer Infrastruktur, darunter auch auch Cafés mit Meerblick, konsequent darauf achten müssen, wie ortsfest oder mobil diese Anlagen sind. Die sogenannte „hochwasserangepasste Bauweise“ wird immer wichtiger.

Wer sich selbst ein detailliertes Bild der Situation für seinen Wohnort in der Lübecker Bucht für die nächsten 20, 100 oder 200 Jahre machen möchte, der kann dies über die entsprechenden Hochwassergefahrenkarten des Landes Schleswig-Holstein tun: zebis.landsh.de/webauswertung/  Daneben erlaubt das „Coastal Risk Screening Tool“ des Anbieters Climate Central den Nutzern zu überprüfen, welche Auswirkungen ein globaler Temperaturanstieg von 1,5 Grad Celsius oder sogar von 2,5 Grad Celsius auf die Küsten der Region hierzulande und im Rest der Welt hat: https://coastal.climatecentral.org/map/10/9.9806/54.4652/?theme=warming&map_type=multicentury_slr_comparison&basemap=roadmap&elevation_model=best_available&lockin_model=levermann_2013&refresh=true&temperature_unit=C&warming_comparison=%5B%221.5%22%2C%222.5%22%5D

„Wir brauchen Echtheit in der Politik“ – Interview mit Annegret Kramp-Karrenbauer

Gut zwei Jahre lang war Annegret Kramp-Karrenbauer Parteivorsitzende der CDU. Im Interview mit Frank Wagner spricht sie über ihre Zustimmungswerte, den Unterschied zwischen der Bundespolitik und dem Saarland und darüber, warum sie manche Dinge deutlicher als Angela Merkel aussprechen kann.

Interview: Frank Wagner

Frau Kramp-Karrenbauer, nicht nur in der Bundespressekonferenz auch in der gesamten Republik ist der Fortbestand der GroKo ein Dauerthema. Wie lange hält die Koalition noch?

Die Koalition gibt es jetzt seit einem Jahr, der letzte Koalitionsausschuss war eine ganz unspektakuläre Arbeitssitzung. Das ist erstmal ein gutes Zeichen. Die Umfragen in der eigenen Partei und auch außerhalb machen sehr deutlich, dass sich die Menschen wünschen, dass die Kanzlerin weiterhin Kanzlerin bleibt. Das ist auch mein Wunsch. Wir sind alle gewählt worden, um zu regieren, das ist eine hohe Verantwortung, die wir haben. Und es muss sich jetzt zeigen, ob diese Große Koalition auch die Substanz hat, mit neuen Herausforderungen fertig zu werden, sollten die Zeiten mit Blick auf die Haushaltslage, die wirtschaftliche Entwicklung schwieriger werden. Ich würde mir das wünschen, aber das wird man eben in den nächsten Monaten sehen. Für die CDU kann ich nur sagen, unserer Interesse ist es, dass diese Regierung erfolgreich arbeitet.

Und die SPD wäre ja auch schlecht beraten auszusteigen, weil sie dann ja vermutlich nicht erneut in Regierungsverantwortung käme.

Das muss die SPD für sich entscheiden, das ist eine eigene Angelegenheit der Sozialdemokraten.

Sie sind aber nach wie vor jederzeit bereit, das Amt der Regierungschefin zu übernehmen?

Die oder der CDU-Vorsitzende hat immer die Aufgabe, diesen Prozess von vorne weg zu führen und das habe ich erklärt. Das ist mir sehr bewusst gewesen, als ich mich zur Wahl gestellt habe. Das ist eine hohe Verantwortung und diese nehme ich auch in die Hand.

Nun gab es unlängst Zahlen vom ZDF-Politbarometer, wonach Ihnen aktuell nur 34 Prozent die Kanzlerschaft zutrauen, 51 Prozent sagen dagegen, Sie seien als Kanzlerin ungeeignet. Was ist da los?

Also, zum einen ist es natürlich schöner, wenn man bessere Zahlen hat, das ist überhaupt keine Frage. Aber zum Anderen werde ich jetzt vor allen Dingen als Vertreterin einer Partei wahrgenommen und damit auch als jemand, der in einer politischen Kontroverse steckt. Das verändert dann auch persönliche Bewertungen. Solange sich die CDU in den Umfragen verbessert – das war bei uns mit Blick auf die politische Stimmung und die Europawahl der Fall – ist für die Vorsitzende alles okay.

Am Anfang hat man Ihnen unterstellt, Sie könnten eine „Merkel 2.0“ werden und „Alles“ würde weitergehen wie bisher. Tatsächlich geben Sie ein durchaus anderes Bild ab. Gehören dazu vielleicht auch ein paar thematische Tabubrüche, mit denen Sie deutlich machen, dass Sie anders sind?

Ich habe schon bei meiner Bewerbung ganz deutlich gemacht, dass ich mich jetzt nicht künstlich von Angela Merkel absetze. Und das tue ich auch nicht. Wir haben viele Punkte, bei denen wir gemeinsame Auffassungen haben, aber auch das eine oder andere, wo wir uns sicherlich auch ähneln, trotzdem waren wir von Anfang natürlich immer sehr unterschiedliche Personen. Ich habe eine andere Art zu kommunizieren, bin in manchen Punkten deutlicher. Als Parteivorsitzende kann ich auch in manchen Punkten deutlicher sein. Eine Kanzlerin muss immer Rücksicht auf das Amt und zum Beispiel internationale Situationen nehmen. Und darin steckt ja im Moment die Chance für die CDU mit Blick auf die Profilbildung der Partei: Da ist eben eine Parteivorsitzende, die im Moment auf diese Dinge keine Rücksicht nehmen muss. Das ermöglicht es mir, manche Dinge, die Angela Merkel vielleicht genauso sieht, deutlicher auszusprechen als sie das vorher konnte.

Das heißt, Sie nutzen die Gelegenheit, jetzt, wo sie noch nicht Bundeskanzlerin sind, die Grenzen neu zu kennzeichnen?

Ich nutze die Gelegenheit, egal, was in der Zukunft kommt, um die Partei so aufzustellen, dass wir inhaltlich, personell, aber auch organisatorisch jederzeit in der Lage wären, wenn Entscheidungen anstehen und Wahlen kommen sollten, diese so zu gestalten, dass wir in die Verlegenheit kommen, wieder einen Regierungschef oder eine Regierungschefin zu stellen. Deswegen haben die Delegierten mich auf dem Parteitag gewählt und diese Aufgabe nehme ich auch sehr ernst.

Frau Kramp-Karrenbauer, wir haben jetzt 100 Tage „AKK“ hinter uns. Wie fällt ihre persönliche Bilanz aus?

Ich bin insgesamt sehr zufrieden. Denn die Aufgabe war, nach dem spannenden Parteitag deutlich zu machen, dass diese Partei zusammensteht, dass wir gemeinsam mit der CSU insbesondere in den Europawahlkampf gehen. Wir haben erste inhaltliche Schwerpunkte gesetzt, beim Werkstattgespräch zur Migrations- und Flüchtlingspolitik, aber auch jetzt in der Europapolitik und wir haben uns noch einige Themen vorgenommen – also insofern ein ganz guter Start. Aber es ist noch viel zu tun.

Da Sie gerade das Werkstattgespräch zur Flüchtlingspolitik erwähnen: Im Wahlkampf für den Parteivorsitz hatten Sie gefordert, straffälligen Asylbewerbern die erneute Einreise in den Schengen-Raum lebenslang zu verwehren. Sind Sie weiter an dem Thema dran?

Wir werden jetzt im Rahmen des Europa-Wahlprogramms darüber reden. Es ging darum, dass diejenigen – egal in welchem Status – die hier schwerste Gewalttaten begehen, das Land verlassen müssen, entweder bevor sie die Haft antreten oder nachdem sie die Haft abgesessen haben. Das ist heute schon möglich. Ich bin nur der Meinung, wenn wir Schengen wirklich als gemeinsamen Sicherheitsraum ausgestalten wollen, dann muss dieses Wiedereinreiseverbot nicht nur für Deutschland gelten, sondern für den gesamten Schengenraum. Das ist rechtlich möglich und ich würde mich sehr freuen, wenn wir das als CDU/CSU wirklich auch ins Wahlprogramm aufnehmen.

Sie hatten beim Parteitag in Hamburg gesagt, die Themen bzw. politischen Entscheidungen müssten ihren Weg von der Partei in die Fraktion und dann zur Regierung nehmen – nicht umgekehrt. Sprich, die Partei sollte nicht mehr nur mit dem klarkommen müssen, was die Regierung entscheidet, sondern auch selbst Akzente setzen. Läuft diese Strategie inzwischen an?

Natürlich gibt es Themen, die aus der Tagesaktualität kommen und Regierungshandeln bzw. Fraktionshandeln sind. Aber ich glaube, es war wichtig, dass die Partei jetzt einen europapolitischen Aufschlag gesetzt hat, dass die Partei jetzt diejenige ist, die sich mit dem Artikel 13, also dem Urheberrecht im Internet, auseinandersetzt und Vorschläge gemacht hat, wie man dies national umsetzen kann. Damit hat die Partei auch einen Konflikt entschärft. Das zeigt, diese Partei will inhaltlich Duftmarken setzen, will arbeiten. Insofern glaube ich, dass wir auf einem guten Weg sind.

Sie hatte im Interview mit dem Magazin der Jungen Union gesagt, Sie bzw. die Partei wären gerne „Herrin der Bilder“ und würden auch ihre Nachrichten selbst produzieren. Verschiedene Journalistenverbände befürchten die Beschneidung ihrer Arbeitsmöglichkeiten, wenn Sie in der Partei künftig einen so genannten „Newsroom“ für eigene Bilder und Nachrichten einrichten. Was ist da dran?

Darum geht es überhaupt nicht. Ich glaube, wenn man in diesen Zeiten ein wenig um uns herum schaut, leider auch in Europa, dann weiß man, was ein unabhängiger Journalismus wert ist. Die CDU hat sich immer dazu bekannt und wird sich auch weiter dazu bekennen. Aber ein „Newsroom“-Konzept ist im Übrigen etwas, das sich mittlerweile jeder überlegt, der mit moderner Kommunikation arbeitet. Es geht ja vor allem darum, dass man unterschiedliche Kanäle nutzt. Und natürlich muss eine Partei ihre Botschaften, insbesondere auch an ihre Mitglieder, sehr schnell und sehr authentisch verbreiten können. Und wenn wir jetzt zum Beispiel eigene Diskussionsformate produzieren – insbesondere für unsere Mitglieder aber auch live gestreamt, so dass sich Interessierte das anschauen können – dann schließt das kritischen Journalismus aus meiner Sicht in keinster Weise aus.

Es geht Ihnen demnach um die interne Kommunikation in der Partei und bei ihren Anhängern und nicht darum, die Schlagzeilen zu bestimmen, indem man Journalisten ausschließt und die Nachrichten selbst generiert?

Nein, überhaupt nicht.

Stichwort Presse: Anders als früher im Saarland stehen Sie nun überall auf der bundespolitischen Bühne, egal, ob Sie in Berlin oder in einem deutlich kleineren Ort in Deutschland auftreten. Stört sie das bzw. beeinflusst sie das in ihrer Wortwahl?

Das ist ein Fakt, mit dem man umgehen muss und an das man sich auch gewöhnen muss. Es darf allerdings nicht dazu führen, dass man dann im Grunde genommen bereits eine vorgeschaltete Zensur im Kopf hat. Denn wenn man das zulässt, verliert man auch seine Authentizität. Die ist mir sehr wichtig. Deswegen ist es immer ein schmaler Grat zwischen der Frage, wo glätte ich sozusagen meine Sprache, damit es möglichst wenig Angriffsfläche gibt und wo würde das dazu führen, dass man selbst inhaltliche Positionen aus seiner eigenen Persönlichkeit aufgeben müsste. Natürlich gibt es einige Menschen, die ganz bewusst nach bestimmten Formulierungen suchen – wir stecken in einer politischen Auseinandersetzung, da darf man nicht naiv sein. Ich glaube aber, dass wir in der Politik eine gewisse Echtheit brauchen. Und wenn diese Echtheit das eine oder andere Mal zu einer Auseinandersetzung führt, dann muss man das Risiko eben kennen und bereit sein, damit zu leben. Und das bin ich.

Mehr Grundstücke für Baugenossenschaften? – „Keine Verbesserungen nach zwei Jahren Regierungszeit“

Großinvestoren, die hochwertige Eigentumswohnungen bauen, schaffen viel Rendite – aber meist keinen Wohnraum für den Durchschnittsverdiener.  Das hat mittlerweile auch der Berliner Senat erkannt und verkauft seine Grundstücke nicht mehr nur an den Höchstbietenden. So kommen auch Genossenschaften zum Zuge. Zufrieden sind diese aber trotzdem nicht.

Von Frank M. Wagner

Beim Berliner Wohnungsbau gibt es viele gute Nachrichten, so scheint es oberflächlich betrachtet jedenfalls. Die landeseigene Berliner Immobilienmanagement GmbH (kurz: BIM) hat im Jahr 2017 satte 170 Grundstücke verkauft und keines davon ging an die oft kritisierten Hedgefonds oder an ausländische Investoren. Im Gegenteil: „Im Wesentlichen handelt es sich um Verkäufe von Ein- und Zweifamilienhausgrundstücken sowie um den Verkauf kleinerer Splitter- und Arrondierungsflächen“, sagt Johanna Steinke, Pressesprecherin der BIM. Ganz konkret gilt also: Kleinere Grundstücke im klassischen Bieterverfahren verkauft die BIM hauptsächlich an Bürger, die ihren Traum vom Einfamilienhaus verwirklichen wollen. Darüber hinaus seien Wohnbaugrundstücke für den Geschosswohnungsbau an landeseigene Wohnungsbaugesellschaften und Genossenschaften verkauft worden. Steinke betont: „Die Liegenschaftspolitik im Land Berlin hat sich vor einigen Jahren stark verändert. Mit der sogenannten ‚Transparenten Liegenschaftspolitik‘ setzt das Land seinen Fokus auf eine langfristige, strategische Ausrichtung. Damit verbunden ist eine eindeutige Abkehr von Verkäufen zum Höchstpreis im Zuge von Bieterfahren.“

Diese Haltung klingt zunächst einmal nicht nur prima, sie ist es im Grundsatz auch. Und passt sie nicht ganz wunderbar zu den vollmundigen Ankündigungen, die die Regierungskoalition aus SPD, Linken und Grünen 2016 in ihrer Koalitionsvereinbarung festgehalten hatte? Dort, auf Seite 29, stellt die Koalition unter der Überschrift „Wohnungsbaugenossenschaften besser unterstützen“ zunächst einmal die besondere Bedeutung der Genossenschaften heraus: Sie seien „wichtige Partner für eine soziale Wohnungspolitik“, denn mit ihren rund 190.000 Wohnungen wirkten sie „dauerhaft mietpreisdämpfend und sozial stabilisierend“. Sodann heißt es ganz konkret und unmissverständlich: „Um das Wohnungsangebot für Haushalte mit geringen und mittleren Einkommen zu erweitern, sollen die Genossenschaften durch Wohnraumförderung, die Bereitstellung von Grundstücken und Kooperationen beim kommunalen Vorkaufsrecht stärker unterstützt werden“. Also müsste ja alles bestens sein. Mitnichten.

Christian Luchmann, Mitglied der Entwicklungsgenossenschaft Urban Coop Berlin eG, bringt die Situation ganz unverblümt auf den Punkt: „Beim Thema Bereitstellung von Grundstücken sehen wir nach zwei Jahren Regierungszeit noch keine Verbesserungen.“ Urban Coop Berlin will aktiv neue Genossenschaften initiieren und genossenschaftliche Bauvorhaben mit leistbaren Mieten in Berlin umsetzen. „Die Rahmenbedingungen dafür sind allerdings noch nicht gegeben“, meint Luchmann.

Ähnlich kritisch äußert sich auch Dirk Enzesberger, Vorstand der Charlottenburger Baugenossenschaft eG. Zwar begrüße man alle Vorhaben, mit denen Genossenschaften bei ihrem Ziel der Schaffung von Wohnraum unterstützt werden sollten. „Wir können jedoch, außer Absichtserklärungen vieler Akteure, keine verbindlichen Maßnahmen erkennen, diese Ziele auch in der Praxis umzusetzen.“

Zufriedenheit klingt anders, völlig anders. Schaut man sich die im Koalitionsvertrag angekündigte „bessere Unterstützung“ einmal in der konkreten Realität an, wird klar, weshalb die Genossenschaften verärgert sind:

Im Jahr 2017 wurden ganze drei landeseigene Grundstücke an Baugenossenschaften verkauft, deren Größe lag bei einer als relativ schmal zu bezeichnenden Quadratmeterzahl von 3.000 bzw. 2.220 qm. Eines der drei, ein so genanntes „Arrondierungsgrundstück“ wies sogar nur 100 qm auf. Im aktuellen Jahr 2018 sind bislang vier Objekte an Genossenschaften bzw. genossenschaftsähnliche Nutzer veräußert worden, drei  davon auch außerhalb von Konzeptverfahren. Aktuell laufen noch drei Verfahren, die sich auch an genossenschaftlich organisierte Nutzer richten. Für 2019 sollen es laut Bausenatorin Lompscher fünf sein.

Um zu verstehen, wie Baugenossenschaften bei landeseigenen Grundstücken überhaupt zum Zuge kommen, muss man sich drei Möglichkeiten des Grundstückserwerbs anschauen, die die BIM anbietet.. Da gibt es zum einen die eher seltenere Direktvergabe von Grundstücken, etwa an Botschaften oder Industriebetriebe, die sich an bestimmten Orten in Berlin ansiedeln sollen. Am häufigsten erfolgt die Vergabe allerdings im klassischen Bieterverfahren, bei dem der Meistbietende den Zuschlag erhält – vorausgesetzt natürlich, er kann das Grundstück auch bezahlen. Daneben gibt es inzwischen noch das so genannte „Konzeptverfahren“. Anders als im Bieterverfahren zählt hier nicht der größte Scheck, sondern vor allem die beste Idee als Entscheidungskriterium – wenn man es einmal sehr plakativ formulieren will. Anders gewendet: Wer erfolgreich ein Grundstück im Konzeptverfahren erwerben will, muss unter anderem ein stimmiges inhaltliches und ökologisches Konzept vorlegen, ebenso muss die Vorstellung auch wirtschaftlich und gestalterisch überzeugen sowie standortgerecht sein. Denn immerhin geht es beim Konzeptverfahren in der Regel um Grundstücke für die ein öffentliches Interesse hinsichtlich der künftigen Nutzung besteht.

Aktuell laufen drei Konzeptverfahren und zwar zu den Grundstücken Brandenburgische Straße 15, Osdorfer Straße 17/18 und Türrschmidtstraße 32/32 a. Auf ihrer Internetseite kritisiert die Entwicklungsgenossenschaft Urban Coop Berlin diese Grundstücke als „sehr unattraktiv“: Sie seien unter anderem sehr klein und nicht frei von Nutzungen: „So wird beispielsweise das Grundstück in der Brandenburgischen Straße durch einen Verein und einen Autohandel genutzt, auf dem Grundstück Osdorfer Straße gibt es diverse Nutzungen.“ Die Klärung der Freimachung würde auf den Bieter und künftigen Erbbaurechtsnehmer abgewälzt. Urban Coop: „Etwaige Auseinandersetzungen und Konfliktregulierungen können zu nicht absehbaren Verzögerungen oder zum nicht Zustandekommen des Erbbaurechtsvertrages führen.“
Dazu meint Johanna Steinke von der BIM: „Es ist richtig, dass die ausgeschriebenen Grundstücke derzeit nicht frei von Nutzungen sind. Die Miet- und Nutzungsverhältnisse wurden bzw. werden jedoch fristgerecht gekündigt bzw. aufgehoben, mit dem Ziel, die Grundstücke nach Vertragsschluss frei von Nutzungen Dritter übergeben zu können.“ Die Brandenburgische Straße sei bereits frei von Nutzungen durch Dritte.

Doch warum werden insgesamt nur so wenige Grundstücke im Konzeptverfahren vergeben? Steinke: „Viele der 170 Grundstücke waren Ein- und Zweifamilienhausgrundstücken sowie kleinere Splitter- und Arrondierungsflächen. Diese würden sich für ein Konzeptverfahren gar nicht eignen.“ Bei allen anderen Grundstücken, bei denen im Rahmen der Clusterung (also der Einordnung) gemeinsam mit den Fachverwaltungen und Bezirken entschieden wurde, dass sie in einem Konzeptverfahren vergeben werden, sei dies auch passiert. „Und das waren für 2017 und 2018 eben die genannte Anzahl.“

Was muss also getan werden, damit mehr Konzeptverfahren ausgelobt werden können? Senatorin Lompscher bringt in einem Tagesspiegel-Interview eine Quote für die Nutzung landeseigener Bauflächen zugunsten der Genossenschaften und ähnlicher gemeinwohlorientierter Bauträger ins Spiel, damit diese Planungssicherheit bekämen. Dazu erklärt Birgit Möhring, Geschäftsführerin der BIM auf Anfrage der Agentur ET-Media, Berlin: „Wir begrüßen den Vorstoß von Frau Lompscher und würden eine solche Regelung für unsere treuhänderisch verwalteten Liegenschaften gerne umsetzen, da wir die Auffassung vertreten, dass sowohl Baugenossenschaften als auch gemeinwohlorientierte Dritte einen wichtigen Beitrag zur Vielfalt Berlins leisten“.

Christian Luchmann hat derweil schon sehr konkrete Vorstellung zur Quote: „Wir fordern eine Beteiligung der Genossenschaften an der Baulandvergabe mit 30 % der Flächen. Insofern begrüßen wir, dass Frau Lompscher diesen Punkt aufgreift.“
Die Charlottenburger Baugenossenschaft findet es ebenfalls positiv, dass die Senatorin sich gegenüber Vorschlägen und Modellen von Genossenschaften oder bereits etablierter Verfahren anderer deutscher Städte zur stärkeren Beteiligung von Genossenschaften am Wohnungsbau öffnet.
Vorstand Dirk Enzesberger hat dazu einen recht langen Katalog mit Vorschlägen, unter anderem: „Alle landeseigenen Grundstücke größer 2 ha erhalten einen verbindlichen Anteil von mindestens 25% genossenschaftlichem Wohnungsbau“ und: „Mindestens 33% genossenschaftlichen Wohnungsbau für alle landeseigenen Flächen mit ‚Schwerpunkt des Wohnungsneubaus‘ analog zum Münchener Modell“.

In München funktioniert bereits, was in Berlin noch entwickelt werden muss. Dafür hat die rot-rot-grüne Koalition noch maximal drei Jahre Zeit.

Update: Der Berliner Senat hat die Förderung von Wohnungsbaugenossenschaften inzwischen geändert. In einer Pressemitteilung vom 11. September 2018 skizziert er die Eckpunkte der Unterstützung des genossenschaftlichen Wohnens . Mehr dazu hier: http://www.stadtentwicklung.berlin.de/aktuell/pressebox/archiv_volltext.shtml?arch_1809/nachricht6606.html

„Dann muss man die Plattform abschalten“

Raoul Roßmann ist Geschäftsführer Einkauf & Marketing beim Drogeriekonzern Rossmann. Der 32-Jährige kritisiert die Angebote dubioser Händler auf dem „Amazon Marketplace“ und sieht dort einen „praktisch rechtsfreien Raum“ ohne Produktkontrolle.

Herr Roßmann, Sie haben erklärt, der „Amazon Marketplace“, bei dem quasi jeder Händler Produkte verkaufen kann, sei so etwas wie das „Darknet“ des Onlinehandels.

Das habe ich darauf bezogen, dass der Verbraucherschutz dort einfach keine Rolle spielt, deshalb kann man da von „Darknet“ sprechen. Eine wirkliche Produkthaftung und ein Interesse an der Gesundheit des Verbrauchers besteht dort nicht. Wir hatten uns dazu unter anderem eine Gesichtscreme auf dem „Marketplace“ angesehen, die 150 Bewertungen mit einem Stern erhalten hatte. Da fragt man sich natürlich, warum nach der zehnten oder elften Ein-Stern-Bewertung überhaupt noch jemand weiterkauft. Aber daran sieht man, dass Kundenbewertungen eben auch nicht abschrecken. Es gab darüber hinaus auch noch reihenweise Kommentare mit den Begriffen „Hautrötungen“, „Hautverätzungen“ et cetera. Daran sieht man doch auf den ersten Blick, dass da etwas nicht stimmen kann. Trotzdem wird der Artikel weiterverkauft. Und bei diesem Thema legen wir den Finger in die Wunde.

Sie haben 24 Produkte, die zum Großteil über China nach Deutschland kamen, testen lassen und 93 Einzelverstöße gegen die EU-Kosmetikverordnung festgestellt.

Wir haben uns über ein halbes Jahr mit dem Thema befasst, bevor wir uns zusammen mit „dm“ und „Douglas“ an die Bundesregierung gewandt haben. Wir wissen, das ist eine schwere Thematik, aber bei dem Ausmaß muss man jetzt auch entschlossen handeln. Für uns ist klar, dass Amazon für bestimmte Produktgruppenbereiche in die Haftung genommen werden muss. Und wenn das Unternehmen das nicht tut und man sieht, dass die Mehrzahl der Artikel nicht verkehrsfähig ist, dann muss man eine Plattform abschalten.

Wie geht es weiter?

Ich denke, dass Amazon wahrscheinlich eigene Leute einstellen muss, die sich mit der Thematik befassen, die ein Dokumentenmanagement nachhalten, sich mit Zertifizierungen auseinandersetzen, um überhaupt zumindest mal eine Plausibilitätsprüfung zu machen, ob ein Artikel überhaupt verkehrsfähig ist. Das ist bei einem kosmetischen Mittel, das auf Englisch verkauft wird, nicht der Fall. Das ist doch ganz klar.

„Vom Keller auf den Laufsteg“: Wie sich die IT-Welt für Frauen entwickelt hat

Im Mai fand in Berlin wieder die re:publica statt, die größte Konferenz der europäischen Digitalszene. Ein männerdominiertes Nerd-Event par excellence? Mitnichten, denn die IT-Welt bietet heute deutlich bessere Arbeitsbedingungen für Frauen als andere Branchen.

Zugegeben, in ihrer Anfangszeit war die Computerwelt durchaus eher eine klassische Männerdomäne. So baute der Berliner Konrad Zuse 1941 den ersten funktionstüchtigen Computer, Bill Gates gründete 1975 das Unternehmen Microsoft, Jack Tramiel brachte 1982 den legendären Computer C-64 auf den Weg und Steve Jobs machte einige Jahre später schließlich die Garagenfirma Apple zu einem Weltkonzern. Inzwischen hat sich die frühe Welt der Datenverarbeitung, bei der vor allem das Programmieren gefragt war, jedoch entscheidend verändert.

Heute spricht man nur noch von der Informationstechnologie – kurz: IT – oder auch der Digitalwirtschaft, bei der es neben der Computer-Hardware vor allem auch um digitale Dienste wie Apps oder andere Software geht. Die Branche ist vielfältiger geworden und bietet so insbesondere Frauen deutlich mehr Chancen und Perspektiven als andere Wirtschaftszweige. Dazu erklärt Harald R. Fortmann, beim Bundesverband Digitale Wirtschaft (BVDW) zuständig für die Arbeitswelt der Zukunft: „Zum einen ist die Vereinbarkeit von Beruf und Familie für Eltern in dieser Branche aufgrund der stark digitalisierten Arbeitsweise einfacher umzusetzen. Zum anderen hat der akute Fachkräftemangel in der Branche die Umsetzung etwa von Teilzeitangeboten, Job-Sharing-Angeboten et cetera beschleunigt.“

Damit benennt Fortmann einen Vorteil, den die Digitalbranche im Gegensatz zu Jobs mit täglicher Präsenzpflicht am Arbeitsplatz aufweist. Anders als etwa bei der Arbeit in Ladengeschäften oder bei Beratungstätigkeiten mit starkem Kundenkontakt geht es in der IT oft vielmehr darum, ein solides Arbeitsergebnis abzuliefern statt nachzuweisen, dass man seine Arbeitsleistung mit einer fixen Stundenanzahl im exakten Zeitraum zwischen 9 und 18 Uhr erbracht hat. Wer in der IT-Branche tätig ist, kann Teile seiner Arbeitszeit häufig im „Home Office“, also zu Hause am Schreibtisch, verbringen. Auch die Wartung oder Reparatur eines Computersystems kann inzwischen größtenteils von außen erfolgen, ohne dass ein Softwareexperte dazu den Kunden zu Hause besuchen müsste. Für die Arbeitnehmer bedeutet dies Flexibilisierung pur – und zwar in einem guten Sinne.

28 Prozent Frauenanteil: ein Plus von vier Prozent

Die wachsende Attraktivität schlägt sich langsam in den Beschäftigungszahlen nieder. Einer Arbeitsmarktstudie des Branchenverbandes Bitkom zufolge ist der Anteil der Frauen in der IT-Branche zuletzt leicht gestiegen. Im Jahr 2017 waren 28 Prozent aller Mitarbeiter in der IT Frauen – immerhin ein Plus von vier Prozentpunkten im Vergleich zu 2015.

Dass sich die Arbeitswirklichkeit von Frauen in der IT positiv entwickelt hat, sieht auch Ute Blindert so, die unter anderem als Beraterin zum Thema „Netzwerken in digitalen Zeiten“ und als Autorin tätig ist. Zudem gehört Blindert den „Digital Media Women“ (DMW) an, dem Netzwerk für Frauen in der Digitalbranche. Die Nachfrage nach Fachkräften sei sehr groß: „Wer ein Informatik-Studium vorweisen kann und praktische Erfahrungen in begehrten Feldern hat, kann sich seine Jobs quasi aussuchen“, sagt Blindert. „Dazu kommt, dass viele Arbeitgeber verstanden haben, dass gemischte Teams oft besser arbeiten und auch bessere Ergebnisse liefern – und dafür braucht man nun mal Frauen.“ Zudem wollten viele Unternehmen auch ihre Führungsmannschaften diverser aufstellen und suchten auch dafür nach passenden Kandidaten.

Die Zahl der weiblichen Führungskräfte hat sich insbesondere in den großen IT-Konzernen zuletzt deutlich erhöht. Das operative Geschäft des sozialen Netzwerks Facebook wird beispielsweise seit 2008 von der US-Amerikanerin Sheryl Sandberg geleitet. Geschäftsführerin des führenden Videoportals YouTube ist ebenfalls eine Frau, Susan Wojcicki, und auch hierzulande wird eines der wichtigsten Software-Unternehmen erstmals von einer Frau geführt: Microsoft Deutschland. Dort hat Sabine Bendiek seit Januar 2016 den Chefposten inne.

Doch noch lange nicht kann von einer hälftigen Aufteilung der Jobs auf männliche und weibliche Mitarbeiter in der Digitalwirtschaft gesprochen werden. Das gilt sowohl für die raren Führungspositionen als auch für den Bereich des Codings – also des Programmierens. Hier setzt die Republica mit ihrem Themenkomplex „Female Digital Foodprint“ an.

In gut zwei Dutzend Veranstaltungen will die Konferenz die Position der Frauen in der Digital- und Tech-Branche stärken und den Expertinnen eine Bühne bieten. Dabei richtet sich der Aufruf zur Teilnahme nicht nur an Frauen, sondern auch an Lesbian-, Gay-, Bi-, Trans-, Inter-, Queer- und sich anders definierende Menschen. Hierzu zählen auch die inzwischen oft zitierten „Non Binary“. Das sind jene Menschen, deren Geschlechtsidentität nicht exakt in das binäre System aus männlich und weiblich hineinpasst.

Inhaltlich soll es bei den Panels um Themen wie die Frauenquote, Entgeltgleichheit oder Sexismus gehen. Auch die Sichtbarkeit von Frauen im Web ist ein Thema, denn die reichweitenstärksten Blogs und die meisten Follower auf Twitter haben immer noch die Männer. Ansonsten gilt: Die Macher der Republica kommen dem Ziel einer ausgewogenen Beteiligung der Geschlechter an der Digitalkonferenz mittlerweile schon sehr nahe. Bereits 2017 lag die Frauenquote der mehr als 1.000 Redner bei 47 Prozent.

Insgesamt haben die Berufe in der Digitalwirtschaft ihr Nerd-Image mehr und mehr verloren. Harald R. Fortmann hat dazu den Satz „Vom Keller auf den Laufsteg“ geprägt, der die heutige Situation zutreffend darstellt. Fortmann: „Waren in den 90ern und Anfang dieses Jahrhunderts die IT-Nerds noch diejenigen, die man in den Keller verfrachtete und mit Pizza und süßen Erfrischungsgetränken fütterte, aber auf keinen Fall in die Nähe eines Kunden brachte, sind heute kaum noch Unterschiede zwischen Marketingmitarbeitern und IT-Fachkräften zu spüren.“ Ein Marketingchef eines Unternehmens ohne IT-Verständnis sei 2018 ebenso undenkbar wie ein Technischer Leiter ohne Marketingverständnis.

Programmiererin Maren Heltsche, die ebenfalls den „Digital Media Women“ angehört, begrüßt die Entwicklung weg vom Nerd-Image ausdrücklich: „Moderne Softwareentwicklung ist auf Kommunikation und Interaktion angewiesen. Hier stehen das Team, seine unterschiedlichen Perspektiven und die Zusammenarbeit im Vordergrund, nicht der oder die Einzelne versteckt hinter dem Rechner.“ Ein Informatik-Studium sicherte früher den Zugang zu den begehrten Jobs der bekannten Softwareschmieden, ist aber heute kein absolutes Muss mehr. Heltsche: „Es gibt immer mehr Möglichkeiten und Initiativen, einen Quereinstieg in die IT zu finden. Das Spektrum reicht von kostenfreien und selbstorganisierten Lernmöglichkeiten wie etwa bei der Initiative Rails Girls, bis zu kostspieligen Coding-Bootcamps oder privaten Studiengängen. Diejenigen, die praktische Erfahrungen in der Softwareprogrammierung vorweisen können, haben gute Chancen auf einen Zugang zur IT-Welt.

„Das Umweltministerium leidet unter der neuen Großen Koalition – schon wieder!“

Von 1998 bis 2005 war Jürgen Trittin Bundesumweltminister. Immer wieder wurde das Ministerium in seinen Kompetenzen verändert, bis hin zur neuen Großen Koalition, die gerade gestartet ist. Im Interview erklärt er, was hinter den Veränderungen steckt und warum die Veränderung einiger Ministerien nottut.

Interview: Frank Wagner

Herr Trittin, die neue Bundesregierung ist sechs Monate nach der Wahl gebildet und bringt direkt einige Änderungen mit sich: Zuletzt war das Umweltressort, das Sie selbst ja von 1998 bis 2005 als Minister geführt haben, mit dem Bereich Wohnen gekoppelt. Jetzt wandert das Wohnen zum Innenministerium. Zusätzlich zu diesen beiden Themen will Horst Seehofer auch noch den Bereich Heimat abdecken. Veränderungen der Ministerressorts gab es ja auch zu Ihrer Zeit als Minister schon. Woran liegt es  eigentlich, dass sich die Ministerien bzw. deren Zuständigkeit so stark verändern?

Das hängt im Wesentlichen mit den Machtverhältnissen zwischen Koalitionspartnern zusammen. Wir waren 1998 in der Situation, dass wir damals drei Ministerien in der rot-grünen Koalition beanspruchen konnten. Die FDP war hier ein wenig ein Vorbild, weil sie in ähnlicher Stärke zuvor mit der CDU koaliert hat. Wir waren der festen Überzeugung, dass das Auswärtige Amt für den Vizekanzler nötig ist und dass Grüne das Umweltministerium u.a. wegen des Automausstiegs beanspruchen mussten.

Zum damaligen Zeitpunkt wollten Sie eigentlich auch das Justizressort haben?

Ja, aber damit konnten wir uns nicht durchsetzen. Somit musste Andrea Fischer dann erst Gesundheitsministerin werden und nach einem Jahr und verschiedenen Problemen wechselten wir dann mit Renate Künast in das Landwirtschafts- und Verbraucherschutzministerium. Das war übrigens einer der Gründe dafür, dass es seinerzeit Veränderungen der Ressortzuschnitte gegeben hat. Nach 2002 hatten wir, anders als die Sozialdemokraten, ja stimmlich hinzugewonnen und es gab verschiedene Überlegungen, wie sich dieser Zugewinn ausdrücken sollte. Wir haben dann darauf verzichtet, ein viertes Ministerium zu fordern, aber haben stattdessen eine umgehende und umfassende Stärkung des Umweltministeriums durchgesetzt. Und zwar indem wir die gesamte Kompetenz für die Erneuerbaren Energien dort angesiedelt haben. Damit verblieb im Wirtschaftsministerium praktisch nur noch die Kohle, denn das Thema Atomenergie hatten wir ja vorher bereits ins Umweltministerium geholt. Die inhaltliche Veränderung des Umweltressorts war damals sozusagen das Ergebnis eines Wählerentscheides.

Später ist die von Ihnen genannte Veränderung dann ja zurückentwickelt worden.

Bei der letzten Großen Koalition hat Sigmar Gabriel sich dagegen entschieden, das Finanzministerium zu übernehmen. Das hätte er damals haben können. Er hat sich dann lieber das Wirtschafts- und Energieministerium geschneidert und hat dafür das Bundesumweltministerium um genau um die Inhalte, die Rot-Grün seinerzeit in das Ministerium geholt hat, wieder erleichtert. Das wurde dann etwas stiefmütterlich dadurch entschädigt, dass man die Zuständigkeit für das Bauen dem Umweltministerium zugeschlagen hat.

Jetzt geht das Bauen ja an den neuen Innenminister Horst Seehofer. Wie finden Sie das?

Dazu gab es im Vorfeld ja den Hinweis von Thomas de Maizière, dass das Ministerium mit Sport, Kommunen, Polizei und Verfassungsschutz bereits jetzt sehr breit aufgestellt ist und im Grunde genommen immer unregierbarer wird. Und das Umweltministerium hat jedenfalls unter der letzten Großen Koalition schon gelitten und leidet unter dieser nochmal, indem man selbst die schmale Kompensation, die man ihm für die Wegnahme der Energiekompetenz gewährt hatte – das Bauministerium – ebenfalls wieder wegnimmt.

De Maizière hat ja auch ein Stück weit darauf hingewiesen, dass es gut sei, wenn ein Jurist das Innenministerium führte statt eines Diplom-Verwaltungswirts, wie Horst Seehofer einer ist.

Das hieße Juristen zu überschätzen und das halte ich für völligen Unsinn. Ich halte dagegen das Argument von Herrn de Maiziere für richtig, dass das Innenministerium in seinem jetzigen Zustand die Tendenz zur Unübersichtlichkeit hat. Dahinter hängen ja auch noch große Behördenapparate, die auch alle politisch gesteuert werden wollen. Wie wenig das zum Beispiel beim Bundesamt für Verfassungsschutz gelingt, konnte man bei den NSU-Morden und der Aufarbeitung der Mordserie sehen. Man bekam zudem einen Eindruck davon, was dort im Falle Anis Amri alles schief gegangen ist. Insofern ist die Warnung von Herrn de Maizière, dieses Ministerium so zu halten, dass es managebar ist, berechtigt. Aber es nicht die Frage, ob jemand Jurist oder nicht. Das hört sich aus dem Mund eines Grünen vielleicht ein wenig komisch an, aber Horst Seehofer hat mehrere Jahre lang ein Land wie Bayern regiert. Das galt, zwar nicht in meinem Sinne, aber dennoch als gut verwaltetes Land. Wieso sollte Seehofer die Spitze eines solchen Ministeriums schlechter vertreten als jemand, der das Zweite Juristische Staatsexamen und die Befähigung zum Richteramt hat?

Sprechen wir über die anderen Ministerien: Mitglieder der CDU sind, gelinde gesagt, sehr enttäuscht, dass das Finanzressort nun an die SPD geht. Die Christdemokraten sehen den Finanzminister offenbar als deutlich mächtiger an. Angela Merkel dagegen redet das Wirtschaftsministerium schön und zitiert ohne Quelle die Sehnsucht „Vieler“, das Wirtschafts- und Energieministerium nun endlich wieder besetzen zu können, weil es eben auch sehr wichtig sei.

Der wahre Kern ist, dass für die großen Fragen der Globalisierung, insbesondere der staatlichen Globalsteuerung oder Farbensetzung seit Oskar Lafontaine das Finanzministerium zuständig ist. Damals sind entscheidende Kompetenzen ins Finanzministerium gegangen und sie sind nie wieder zurückgekommen. Diese Stärkung des Finanzministeriums zu Lasten des Wirtschaftsministeriums ist eine objektive Tatsache, die hat aber nichts damit zu tun, wer das regiert. Der ideologische Teil der Union ist, dass sie nach wie vor festgelegt sind auf eine Politik der Austerität. Von der hat jetzt die Koalition sich jetzt entschieden zu verabschieden – zumindest in den Überschriften – weil das mit einem gemeinsamen Europa nicht geht. Da hätte die CDU gerne weiter den Daumen drauf gehabt, aber jetzt istdas Finanzministerium in den Händen von Herrn Scholz. Ich würde noch einmal abwarten, ob der eine grundsätzlich andere Politik als Herr Schäuble macht. Da bin ich persönlich noch nicht von überzeugt. Aber er ist natürlich kein CDU-Mann, insofern verstehe ich den Schmerz der CDU.

Kann Peter Altmaier von dem Ministeriumszuschnitt profitieren, den Sigmar Gabriel durchgesetzt hat?

Altmaier profitiert von einem Ministerium das einerseits im Bereich der Wirtschaftspolitik für (im besten Sinne) Klimapflege zuständig ist, daneben vielfach auch für Subventionen etc. . Und im entscheidenden Bereich der Wirtschafts- und Standortpolitik, nämlich in der Frage der Energiepolitik, hat das Ministerium aus Sicht von Altmaier eine gute Bündelung von Kompetenzen. Herr Altmaier wollte schon in den Jamaika-Gesprächen immer darauf bestehen, dass die Energiekompetenz nicht wieder aus dem Wirtschaftsministerium herausgenommen wird. Die Energiepolitik ist ein zentrales Asset für eine moderne Industriepolitik. Insofern ist das, was Oskar Lafontaine dem Wirtschaftsministerium 1998 an Schwächung beigefügt hat, später im Jahre 2013 durch die Große Koalition, durch Sigmar Gabriel, ein Stück weit teilkompensiert worden. Und davon profitiert jetzt Herr Altmaier.

Lange bevor die Regierungsbildung Mitte März jetzt stattfand hat sich der Bundestag Mitte Januar dazu entschieden, seine Ausschüsse zu bilden. War das eventuell ein wenig zu früh, nachdem der genaue Kompetenzenzuschnitt der Ministerien im Januar ja noch nicht klar war?

Bis dahin war es ja so, dass die bisherige Bundesregierung geschäftsführend im Amt war und irgendwie muss man die ja einer parlamentarischen Kontrolle unterwerfen. Und der Bundestag ist natürlich flexibel genug die Themen und Kompetenzen der Ausschüsse so zu schließen, dass sie wieder bündig mit denen der Regierung sind. Das sieht man ja jetzt.

Im Zweifel müsste der eine oder andere Abgeordnete, der etwa ein Experte im Bereich Bauen ist nun noch vom Umweltausschuss in den Innenausschuss wechseln?

Ich glaube, die Fraktionen sind da flexibel genug, auch so eine Situation handzuhaben.

Wie ist das eigentlich bei Ihnen als Mitglied des Auswärtigen Ausschusses und dem neuen Minister: Wären Sie auch mit einem anderen Außenminister als Heiko Maas klargekommen?

Wir sind ja Vieles gewohnt und als Auswärtiger Ausschuss sehr selbstbewusst. Wenn Sie die Ausschussmitglieder danach fragen würden, dann würden die meisten sagen: „Naja, ist doch egal, wer unter uns Außenminister ist“ (lacht). Aber die Wahrheit ist natürlich, dass es parlamentsfreundliche und weniger freundliche Minister gibt. Jetzt kommt etwas ganz Überraschendes: Jemand, der in seiner Praxis, auch was die Informationsgebung angeht, außerordentlich kooperativ war, war der Außenminister Guido Westerwelle. Während der jetzige Bundespräsident eher zur Prärogative der Exekutive neigte.

RTL-CEO Anke Schäferkordt: „Wir setzen auf nationale Inhalte aus Deutschland“

Bei den Werbeinvestitionen wird das Fernsehen dieses Jahr erstmalig vom Online-Bereich überholt. Und zwar weltweit. Anlass zur Sorge ist das für Europas größten TV-Sender RTL jedoch nicht. Frank Wagner hat darüber mit Anke Schäferkordt, Geschäftsführerin der Mediengruppe RTL Deutschland, gesprochen.

Frau Schäferkordt, mit ihrem Nachrichtensender n-tv feiert die Mediengruppe RTL in diesen Tagen 25-jähriges Jubiläum. Wie hat sich der Sender aus Ihrer Sicht entwickelt?

n-tv ist ein Vorbild dafür, wie man eine Medienmarke in das digitale Zeitalter führen kann. Wenn Sie heute an n-tv denken, dann denken Sie nicht nur an lineares Fernsehen, sondern auch an Digitalangebote, an die App auf dem Smartphone oder dem Tablet, an Car-Entertainment-Systeme oder an Amazon Echo. Wir sind mit der Marke n-tv und ihren Inhalten wie Nachrichten und Wirtschaftsberichterstattung überall präsent.

Das lineare Fernsehen, bei dem sich der Zuschauer zu einer bestimmten Uhrzeit vor dem Fernseher einfinden muss, wird gerade bei jungen Leuten eher unbeliebter. Sind die digitalen Angebote, die Sie genannt haben, auch eine ihre Strategien, um die junge Leuten zu erreichen und an n-tv zu binden?

Es ist schon so, dass ein Großteil der Bewegtbildnutzung in Deutschland nach wie vor über lineares Fernsehen erfolgt. Aber Sie haben Recht: Je jünger die Zielgruppe ist, desto mehr wird auf digitalen Endgeräten und auch non-linear, also auf Abruf, konsumiert. Daher haben wir uns als Mediengruppe RTL frühzeitig vom TV- zum Bewegtbildanbieter für alle Plattformen gewandelt. Für uns war es daher selbstverständlich, auch mit unserer Nachrichtenmarke auf allen Plattformen und Endgeräten präsent zu sein und je nach Zielgruppe und Gusto die Informationen so zur Verfügung zu stellen, wie man sie konsumieren möchte.

In wie weit geht Ihre Strategie auf?

Das funktioniert sehr gut. Schauen Sie sich einmal an, wie attraktiv n-tv heute auch für eine junge Zielgruppe auf dem mobilen Endgerät ist: Wir gehören mit n-tv immer zu den Top5-Nachrichtenangeboten in der digitalen Nutzung. Ich glaube, da kann man wirklich sagen, dass n-tv den richtigen Weg beschritten hat.

Im Werbemarkt dominiert der Bereich Online. Haben Sie ein wenig Sorge, dass sich der Werbemarkt in die „falsche“ Richtung entwickelt und Sie davon auch benachteiligt werden könnten?

Im Onlinebereich sind sehr viele Segmente zusammengefasst. Die höchsten Erlöse werden dort mit „Search“ erzielt, ein Bereich, in dem kaum ein deutscher Player präsent ist. Bei den klassischen Medien ist TV – übrigens inklusive seiner Digitalaktivitäten – klar dominant. Aber sicher ist die sehr starke Marktposition der amerikanischen Player Google und Facebook im digitalen Werbemarkt etwas, vor dem deutsche Publisher Respekt haben müssen.

Sprechen wir über „Netflix“ und „Amazon Prime Video“. Gibt es da eine gewisse Angst vor diesen Anbietern auf Seiten der etablierten TV-Anbieter für den Fall, dass sich die Streaming-Anbieter künftig auch für Werbung öffnen sollten?

Angst ist selten ein guter Berater, Respekt sollten wir vor allen Wettbewerbern haben. „Amazon Prime“ und „Netflix“ spielen in einem anderen Segment als unsere Free-TV-Angebote. Sie sind rein non-linear unterwegs und ein Pay-Angebot. Bis dato hat keiner dieser Player Angebote im Werbebereich, also stehen wir hier nicht in Konkurrenz. Allerdings stehen wir natürlich im Wettbewerb um die Gunst der Zuschauer. Da sind die Streaming-Angebote wiederum in der jungen Zielgruppe Wettbewerber, die wir absolut ernst nehmen.

Und in diesem Zusammenhang legen Sie den Schwerpunkt nicht so sehr auf amerikanische Serien wie „Netflix“ und „Amazon“ das tun, sondern mehr auf deutsche Inhalte, um den Wettbewerbern zu begegnen?

Unsere Strategie, auf Eigenproduktionen zu setzen, ist zwar keine Reaktion auf die Angebote von Streaminganbietern. Dennoch ist sie natürlich ein Unterscheidungsmerkmal, weil Sie deutsche Produktionen im fiktionalen und non-fiktionalen Bereich oder in der Information bei „Amazon Prime“ oder „Netflix“ nur in ganz kleinem Umfang oder gar nicht bekommen. Wir haben uns bereits vor einigen Jahren entschieden, verstärkt auf exklusive, unverwechselbare Inhalte zu setzen, die nur bei uns zu sehen sind. Sie erhöhen in einer sich fragmentierenden Medienwelt mit einer immer größeren Anzahl an Angeboten die Aufmerksamkeit für unsere Sendermarken. Und sie werden wichtiger, weil wir mit ihnen eigene Verwertungsrechte über alle Plattformen generieren können.

Sie waren ja bis vor Kurzem CEO der Muttergesellschaft RTL-Group und der Mediengruppe Deutschland. Seit März beschränken Sie sich ausschließlich auf Deutschland und sind dabei weiter als Bertelsmann-Vorstand aktiv. Haben Sie die Veränderung vorgenommen, um  sich stärker auf die Digitalisierung zu fokussieren? Warum haben Sie die Veränderung Ihrer Aufgaben vorgenommen?

Ich bin der festen Überzeugung, dass sowohl die RTL Group als auch die Mediengruppe RTL Deutschland im Zuge der immer schneller werdenden Veränderungen ungeteilte Konzentration von den CEOs braucht. Denn unser Geschäft wird zunehmend fragmentierter, kompetitiver und technologiegetriebener. Darum war das der richtige Schritt zum richtigen Zeitpunkt – sowohl für mich, als auch für die RTL Group in Luxemburg und die Mediengruppe RTL Deutschland. Das heißt nicht, dass ich den Job bei der RTL-Group nicht wahnsinnig gerne gemacht habe. Ich habe viel gelernt, ich habe hervorragend mit meinem Co-CEO Guillaume de Posch zusammengearbeitet. Aber jetzt galt es, sich zu konzentrieren, und das habe ich getan.

Zur Person
Anke Schäferkordt
ist seit 2005 Geschäftsführerin der „Mediengruppe RTL Deutschland“ und Vorstandsmitglied des Bertelsmann-Konzerns. Von 2012 bis März  2017 war sie zusätzlich CEO der Muttergesellschaft „RTL Group“ in Luxemburg. Schäferkordt ist 55 Jahre alt und stammt aus dem westfälischen Lemgo.

Mediengruppe RTL Deutschland und die  RTL Group

Zur Kölner Mediengruppe RTL gehören unter anderem Sender wie RTL, VOX, n-tv, RTL nitro, aber auch Pay-TV-Sender wie RTL Crime/Passion/Living und GEO Television.

Die RTL Group umfasst 57 Fernsehstationen und 31 Radiosender und bildet damit Europas größten Betreiber im Bereich Privatfernsehen und Privatradio. Das Unternehmen beschäftigt insgesamt über 9.200 Mitarbeiter und hatte 2016 einen Jahresumsatz von 6,237 Milliarden Euro vorzuweisen. Den größten Aktienanteil am Unternehmen hält der Gütersloher Medienkonzern Bertelsmann mit 75,1 Prozent.

„Von Investitionen in den USA würde ich derzeit nicht abraten“

Beim „Tag des deutschen Familienunternehmens“ sprach der frühere Wirtschafts- und Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg über die Perspektiven der deutsch-amerikanischen Wirtschaftsbeziehungen. Im Interview mit Frank M. Wagner erklärt er die aktuelle Lage.

Herr Freiherr zu Guttenberg, wie steht es denn um die Situation deutscher Unternehmen in den USA unter der neuen Trump-Administration?

Das hängt ein bisschen davon ab, aus welcher Perspektive Sie herangehen: Wenn Sie ein Unternehmen sind, dass in den USA investieren will, sind die Bedingungen derzeit gar nicht so schlecht. Und das ist auch etwas, dass Ihren Status in den USA durchaus heben kann. Von daher würde ich an diese Frage sogar sehr offen herangehen.

Und was gilt für Unternehmen, die einen US-Standort haben, aber außerhalb des Landes produzieren?

Dann ist die Lage derzeit etwas schwieriger, weil hier noch viele Fragen offen sind. Wir müssen darauf achten, in wie weit sich die protektionistischen Drohungen dann auch durchsetzen. Das ist natürlich ein Ungewissheitsfaktor, dessen man sich als deutsches Unternehmen bewusst sein muss. Ein anderes Beispiel ist: Wenn man als Unternehmen in den USA präsent ist, dort allerdings von exzellenten Arbeitnehmern abhängig ist, die erst noch zuwandern müssen, dann zeigt sich, dass die Einwanderungspolitik von Trump eher Risiken als Vorteile bietet. Aber nochmal:  Von Investitionen in den USA würde ich derzeit nicht abraten.

Außenminister Gabriel hat ja unlängst kritisiert, dass die USA auf internationalem Parkett aktuell nach dem „Recht des Stärkeren“ handelten.

Ich halte diese Herangehensweise von einem deutschen Außenminister für bedingte Klugheit. Ich glaube, dass man keinen Schritt dadurch weiterkommt, indem  man sich ständig gegenseitig mit dem Knüppel beharkt. Man kann mit Argumenten arbeiten. Wenn man bei einem Präsidenten damit nicht durchkommt, gibt es doch eine ganz erkleckliche Zahl in der Administration, die dem „Recht des Stärkeren“ als solches nicht unterworfen ist. Und wenn man Ergebnisse erzielen will, sollte man das nicht mit dem Schaum vor dem Munde machen.

Sie leben und arbeiten in den USA. Können Sie dort auch ein Stück weit politischen Einfluss nehmen?

Jeder, der eine Stimme hat, sollte sie erheben. Und wenn man sie  – hoffentlich vernunftgeleitet – in den USA erhebt, gibt es genügend Menschen, die bereit sind, einem auch zuzuhören. Und deswegen muss kein Mensch, ob er nun in der Politik, Wirtschaft oder gesellschaftlichen Funktionen tätig ist, seine eigene politische Wirkkraft unterschätzen. Manchmal ist es nur ein bisschen, was vielleicht schon Wirkung erzielen kann.

Kurz zu Deutschland: Steigen Sie in den Bundestagswahlkampf ein?

Es ist nicht ausgeschlossen, dass ich mich am Ende etwas im Wahlkampf engagiere. Ich werde dann allerdings vor dem Wahltag wieder in einen Flieger steigen und zurück zu meiner Familien und meinem Unternehmen in die USA fliegen.

Interview: Frank M. Wagner