Archive: März 15, 2024

„Der Meeresspiegelanstieg ist ein großes Problem“

Bis zur Sitzfläche in den Sand eingesunkene Strandkörbe in Scharbeutz (Schleswig-Holstein) im September 2020. Die Körbe stehen vor der Schutzmauer und sind daher nicht vor Hochwasserereignissen geschützt. (c) Foto: Frank M. Wagner
Bis zur Sitzfläche in den Sand eingesunkene Strandkörbe in Scharbeutz (Schleswig-Holstein) im September 2020. Die Körbe stehen vor der Schutzmauer und sind daher nicht vor Hochwasserereignissen geschützt. (c) Foto: Frank M. Wagner

Der Klimawandel ist nicht erst mit dem Einzug der Grünen in die Bundesregierung zum Topthema der politischen Agenda avanciert. Doch was bedeutet der vom Weltklimarat IPCC berechnete mittlere Anstieg des Meeresspeigels von 84 cm konkret für bekannte Küstenorte wie Travemünde und Timmendorfer Strand – und wie wird die Ostseeküste künftig gegen Hochwasser geschützt sein?

„Schleswig-Holstein, meerumschlungen“, heißt es in der Hymne des nördlichsten deutschen Bundeslandes. In Zeiten des Klimawandels geht die geographische Besonderheit der uns umgebenden Nord- und Ostsee natürlich mit einer gehörigen Portion Verantwortung einher. Dementsprechend hat das Land vor über 13 Jahren den „Landesbetrieb für Küstenschutz, Nationalpark und Meeresschutz“ (LKN) eingerichtet: Dessen Motto lautet: „Wir schützen Schleswig-Holsteins Küsten“. Konkret werden in der Behörde, die zum Umweltministerium gehört, Planungsgrundlagen für den Küstenschutz erarbeitet. Die dabei verwendeten sogenannten „Hochwassergefahrenkarten“ geben Aufschluss darüber, wie hart ein 20-, 100- oder gar 200-jährliches Hochwasser unter anderem die Lübecker Bucht treffen wird.

Lage in Scharbeutz und Timmendorfer Strand, Grömitz und Kellenhusen

„Im Bereich Scharbeutz und Timmendorfer Strand ist ja vor einigen Jahren eine Hochwasserschutzmauer in die Düne gebaut worden [siehe Foto ]beziehungsweise es wurde Sand darüber geschüttet, vereinfacht ausgedrückt“, sagt Dr. Thomas Hirschhäuser, Leiter des Geschäftsbereichs Gewässerkunde & Vorarbeiten Küstenschutz beim LKN. Darin enthalten sind Verschlüsse, sogenannte Stöpen, die ab einem bestimmten Wasserstand dann geschlossen werden können. Diese Anlagen bieten einen ausreichenden Schutz. „In unseren Hochwassergefahrenkarten ist gekennzeichnet, dass das Schutzniveau mit dem eines Landesschutzdeiches vergleichbar ist. Das Gleiche gilt übrigens auch für die Klosterseeniederung zwischen Grömitz und Kellenhusen.“

Der erwähnte „Landessschutzdeich“ bietet den besten Schutz vor einer ansteigenden Ostsee, die auf das Festland drängt. Denn dieser Deich, beziehungsweise auch andere Schutzanlagen auf dessen Niveau, halten einem 200-jährlichen Hochwasser stand. Und das liegt heute ungefähr bei 2,50 Meter über dem mittleren Meeresspiegel. Für das Jahr 2100 wäre hierzu noch der mittlere Meeresspiegelanstieg bis dahin zu addieren.

Das heißt: Flächen, die hinter einem Landesschutzdeich oder einer in der Wirkung vergleichbaren Hochwasserschutzmauer liegen, sind vor einer Überschwemmung sicher. Die in Diskussionen vielfach zitierten Horrorszenarien bleiben also dementsprechend aus: Hier wird kein Strandrestaurant fortschwimmen, kein Spielplatz ins Meer abgleiten, kein Haus plötzlich direkt an der Ostsee stehen, obwohl es vorher noch nicht einmal in Sichtweite lag. Klar ist allerdings auch: Gegenstände, die sich vor einem Landesschutzdeich befinden, könnte es hart treffen. Kommt das Extremhochwasser während der Saison, dürften die ungeschützten Strandkörbe beschädigt werden oder gar in der Ostsee verschwinden. Einen ganz kleinen Vorgeschmack dazu gab es unter anderem am 17. September 2020, als etwa in Scharbeutz zahlreiche Strandkörbe aufgrund von Hochwasser fast bis zur Sitzfläche in den Strand einsanken, siehe Foto.

Damit die Flächen hinter den Deichen gesichert bleiben, kommt es darauf an, dass die Sicherungsanlagen in gutem Zustand sind oder wo nötig ausgebessert werden. Im kommenden Jahr erscheint der „Generalplan Küstenschutz 2022“. Dazu wurden alle Landesschutzdeiche einer genauen Sicherheitsüberprüfung unterzogen. Auch die Regionaldeiche, die kleinere oder landwirtschaftlich genutzte Flächen schützen und für die zumeist die Wasser- und Bodenverbände verantwortlich sind, wurden begutachtet.

„Wir prüfen dabei, ob es bei einem 200-jährlichen Hochwasser mit entsprechendem Sturm und Wellen zu einer Überströmung des Deiches kommt und ob dieser dann von hinten erodiert“, erläutert Hirschhäuser die Definition für das Versagen eines Deiches. „Wird dieses Kriterium erfüllt, sieht der LKN für Deiche in Landeszuständigkeit Verstärkungsbedarf, der dann im Generalplan festgehalten wird. Hier werden wir in den nächsten Jahren auch tätig werden.“ Für Regionaldeiche müssen die zuständigen Wasser- und Bodenverbände eigenständig entscheiden, welche Konsequenzen sie aus dem Ergebnis der Sicherheitsüberprüfung ziehen.

Fehmarn

Auf Fehmarn ist das Land Schleswig-Holstein ausnahmsweise auch für die Regionaldeiche zuständig. Dort, wo auf der Halbinsel Siedlungen geschützt werden, ist ein ausreichender Hochwasserschutz vorhanden. „Grundsätzlich gilt: Wo das Land zuständig ist, haben wir die Situation sehr genau im Blick“, betont Wissenschaftler Thomas Hirschhäuser.

Die kommenden Jahrzehnte

Die Schutzwirkung ist im Falle der Landesschutzdeiche aktuell also entweder vorhanden oder wird in Einzelfällen vom LKN jeweils wieder hergestellt. Und die Behörde kalkuliert bereits jetzt für künftige Generationen, die die Deiche gegebenenfalls weiter aufstocken müssen. Es gilt das Konzept des „Klimadeichs“. Bedeutet: Bei einer Deichverstärkungsmaßnahme erhöht der LKN den Deich nicht nur, sondern gestaltet auch dessen Krone breiter. Hintergrund ist, dass heute noch nicht exakt abschätzbar ist, wie groß der Meeresspielanstieg später tatsächlich sein wird. Stellt man in den kommenden Jahrzehnten fest, dass er stärker ausfällt, als man dies heute annimmt, können spätere Generationen einfach eine Kappe auf die verbreiterte Deichkrone aufsetzen. Dementsprechend muss man den Deich heute noch nicht höher bauen als nach dem aktuellen Wissensstand notwendig, sondern vielmehr die Grundlagen dafür bereiten, dass er in Zukunft aufgestockt werden kann.

Wer muss für den notwendigen Schutz sorgen?

Grundsätzlich gilt: Küstenhochwasserschutz ist Aufgabe derjenigen, die einen Vorteil davon haben. An der Ostseeküste gilt allerdings auch die Ausnahme: Da, wo größere Niederungen betroffen sind, etwa bei der Klosterseeniederung oder nördlich von Kiel die Probstei, hat das Land die Verantwortung übernommen. Ansonsten sind neben den Wasser- und Bodenverbänden für die kleineren und landwirtschaftlich genutzten Flächen die Kommunen wie Lübeck, Kiel, Eckernförde, und Flensburg jeweils für ihre urbanen Bereiche zuständig. Touristische geprägten Orte wie Timmendorfer Strand und Scharbeutz zeichnen für ihre jeweiligen Gebiete verantwortlich.

Wer soll das bezahlen?

Die Ortschaften stehen mit der Finanzierungsfrage nicht allein da. Es gibt eine hohe Förderquote des Landes Schleswig-Holstein, den Löwenanteil braucht die kommunale Kasse also nicht zu leisten. Auch Co-Finanzierungsmittel von Bund und EU werden für die Aufgabe mitgenutzt. Finanziell unterstützt wird dabei aber nur, was funktional notwendig ist. Wenn es dann auch noch hübsch aussehen soll, dann sind das Kosten, die auf die jeweilige Gemeinde zukommen. Ein Beispiel dafür wäre etwa eine attraktive Hochwasserschutzmauer aus Glas.

Wer sich selbst ein detailliertes Bild der Situation für seinen Wohnort in der Lübecker Bucht für die nächsten 20, 100 oder 200 Jahre machen möchte, der kann dies über die entsprechenden Hochwassergefahrenkarten des Landes Schleswig-Holstein tun: zebis.landsh.de/webauswertung/  Daneben erlaubt das „Coastal Risk Screening Tool“ des Anbieters Climate Central den Nutzern zu überprüfen, welche Auswirkungen ein globaler Temperaturanstieg von 1,5 Grad Celsius oder sogar von 2,5 Grad Celsius auf die Küsten der Region hierzulande und im Rest der Welt hat:
https://coastal.climatecentral.org/

Frank M. Wagner

Baerbock: „Bei erneuerbaren Energien nur Mittelmaß“

Annalena Baerbock war lange klimapolitische Sprecherin der Grünen im Deutschen Bundestag. Als damalige Oppositionspolitikerin ärgerte sie sich, dass die schwarz-rote Bundesregierung die Ergebnisse des Pariser Klimagipfels  nicht umsetzte.                                                                                                               

Frau Baerbock, Angela Merkel gilt ja als „Klimakanzlerin“. Wie beurteilen Sie die Klimapolitik der Bundesregierung?

Annalena Baerbock, klimapolitische Sprecherin Bündnis90/Die Grünen im Deutschen Bundestag
Annalena Baerbock, klimapolitische Sprecherin Bündnis90/Die Grünen im Deutschen Bundestag. Foto: Frank M. Wagner

Derzeit ist die Klimapolitik der Bundesregierung einfach nicht wirklich existent. Es reicht eben nicht, bei der Klimakonferenz in Paris zu verkünden, man habe ein historisches Abkommen geschlossen und dann zu Hause die Hände in den Schoß zu legen. Von der Umsetzung der Paris-Ergebnisse haben wir bislang gar nichts gesehen.

Sie machen Ihre Kritik daran fest, dass auch drei Monate nach dem Pariser Gipfel noch nichts passiert ist?

Meine Kritik bezieht sich vor allem auf die Diskrepanz zwischen Worten und Taten und dem Desinteresse großer Teile der Regierung. Nach so großen internationalen Konferenzen, die dann auch noch als historisch bezeichnet werden, gibt’s normalerweise danach eine Debatte dazu im Bundestag: was folgt nun daraus. Doch die Regierungsfraktionen setzen die gar nicht erst auf. Das haben dann stattdessen wir Grüne gemacht. Doch außer der Umweltministerin Hendricks war kein einziger anderer Minister anwesend. Das zeigt, dass die Bundesregierung nicht verstanden hat beziehungsweise es nicht umsetzen will, dass Klimaschutz eine Querschnittsaufgabe ist, die selbstverständlich auch die Minister für Wirtschaft, Landwirtschaft, Verkehr und Finanzen angeht.

Sie sprechen von einer Querschnittsaufgabe. Tatsächlich bremst Wirtschaftsminister Gabriel Umweltministerin Hendricks immer wieder aus, etwa indem er klarstellt, es eine Illusion sei zu glauben, dass Deutschland gleichzeitig aus der Kernkraft und der Kohle aussteigen könne.

Der Vergleich ist absurd und es ist traurig, dass mit solchen Unterstellungen gearbeitet wird. Der Atomausstieg bis zum Jahr 2022 ist Konsens bei allen: Kein Mensch – und selbst die Umweltverbände nicht – fordert, bis 2022 zeitgleich aus der Kohle auszusteigen. Es geht um einen schrittweisen Kohleausstieg analog zu den Klimazielen. Auf diesen schrittweisen Ausstieg aus fossiler Energie hat man sich in Paris auch verständigt, sonst hätte man den Klimavertrag nicht schließen müssen. Und deswegen ist es einfach unredlich, so zu tun, als hätte das alles nichts miteinander zu tun. Die Frage ist nicht „ob“ Kohleausstieg, sondern „wie“ wir diesen Prozess gestalten. Und je stärker man sich als Regierung oder auch als Unternehmen diesem Dialog verweigert, desto härter wird es für die betroffenen Regionen, die Beschäftigten und für die von Umsiedlung bedrohten Menschen.

Es gibt etwa in der Lausitz ja Anträge auf weitere Tagebaue, obwohl die gewonnene Kohle jetzt bis in die 30er Jahre hineinreicht und Deutschland dann ohnehin aus der Kohle aussteigen müsste, wenn es seine Klimaverpflichtungen erfüllen will.

Ja, und die Landesregierungen von Brandenburg und Sachsen haben die Anträge auf weitere Tagebaue im ersten Schritt auch genehmigt. Das heißt, man will heute Menschen umsiedeln, damit im Jahr 2040 noch Kohle abgebaggert werden kann. Das konterkariert alle Klimaziele, die wir jemals als Bundesrepublik beschlossen haben. Auch die großen Energieversorger halten ein solches Vorgehen für kein tragfähiges Modell mehr. Nicht ohne Grund haben sich nur zwei Unternehmen überhaupt als Nachfolger für Vattenfalls Kohlegeschäft in der Lausitz angeboten.

Ursache für solche Entscheidungen ist vermutlich die Tatsache, dass Klimaschutz abstrakt ist und sich nicht unmittelbar, sondern erst in den nächsten Generationen auszahlt.

Ja, das ist ein zentrales Problem. Selbst wenn wir nur ein Jahrhunderthochwasser alle zehn Jahre haben, ist der Klimawandel für viele – und auch für die Bundesregierung – einfach zu abstrakt, zu weit weg. Und Klimaschutz zahlt sich eben auch nicht innerhalb einer Legislatur von vier Jahren aus, in der viele Politiker oftmals denken.

Bündnis 90/Die Grünen war ja von 1998 bis 2005 selbst in der Regierungsverantwortung. Was haben Sie denn in dieser Zeit im Klimaschutz erreicht?

Die klimapolitische Sprecherin von Bündnis90/DieGrünen macht sich für erneuerbare Energien stark. Foto: Frank M. Wagner
Die klimapolitische Sprecherin von Bündnis90/DieGrünen macht sich für erneuerbare Energien stark. Foto: Frank M. Wagner

Wir Grüne haben in der Regierungszeit die Energiewende an den Start gebracht und das ist ja einer der zentralen Beiträge zum Klimaschutz. Der Einstieg in die erneuerbaren Energien diente im ersten Schritt dem Ausstieg aus der Atomkraft, aber es beinhaltete natürlich auch den Ausstieg aus den anderen fossilen Energien wie Kohle, Öl und Gas. Und all diejenigen, die sagen „Das kommt jetzt so plötzlich!“, sollten sich mal daran erinnern, dass das EEG jetzt 16-jähriges Bestehen feiert. Und mit dem Einstieg in das EEG war klar, dass wir schrittweise aus den Fossilen herausgehen. Denn es macht ja gar keinen Sinn, Strom aus Wind, Sonne, Biomasse und Wasserkraft zu erzeugen, wenn man nicht im gleichen Zug Kohle und Atomkraft entsprechend zurückfährt. Das war wirklich ein großer Schritt, den die rot-grüne Regierung da gegangen ist. Das Fatale ist, dass dieser Schritt, der nun ja weltweit stattfindet, von der aktuellen Regierung knallhart ausgebremst wird. Das größte Desaster für den deutschen Klimaschutz ist, dass die Attacken auf das EEG immer größer werden.

Nun gibt es ja Klimaleugner, die sagen, den Klimawandel gab es schon immer und sei auch der Grund dafür, dass wir hier eben aktuell keine Eiszeit mehr haben.

Die Klimaleugner verwechseln Wetter mit Klima und sagen gerne, es sei doch prima, wenn es mal ein wenig wärmer würde. Aber worauf es ankommt, sind die Veränderungen in der Atmosphäre über die letzten Jahrhunderte und zwar global. Und da sieht man ganz deutlich den Temperaturanstieg, vor allem seit der industriellen Zeit. Und dass es im globalen Durchschnitt (nicht nur in Deutschland) zu einer Erwärmung gekommen ist, ist einfach nicht wegzudiskutieren, sondern in der Klimawissenschaft eindeutig bewiesen.

Manche halten den Klimaschutz in Deutschland für Unfug, da die klimapolitische Bedeutung des Landes auch aufgrund seiner Größe doch eher gering sei.

Deutschland ist eine der führenden Industrienationen, deswegen ist unser Beitrag enorm. Wenn man nach Europa schaut, muss man feststellen, dass von den fünf europäischen Kraftwerken mit dem höchsten CO2-Ausstoß vier in Deutschland stehen. Das heißt, unser Beitrag ist innerhalb Europas und auch der Welt nicht kleinzureden. Da hilft es auch nicht zu sagen: „Die Chinesen haben mehr Menschen.“ Klar, die müssen sich natürlich auch im Klimaschutz engagieren. Deswegen ist der Pariser Klimavertrag auch so wichtig. Da hat sich die Weltgemeinschaft verpflichtet, dass jeder seinen Beitrag leisten muss. Wir können nicht mehr sagen: Die anderen müssen und wir nicht. Alle müssen was tun. In Paris wurde übrigens auch klar: Diejenigen, die am intensivsten an der Umsetzung des Vertrages mitarbeiten, werden am Ende auch den wirtschaftlichen Vorteil haben.

Stichwort „Wirtschaftlicher Vorteil“: Der Unterschied zwischen der gescheiterten Klimakonferenz in Kopenhagen 2009 und Paris 2015 liegt im Wandel der Erneuerbaren: In Kopenhagen hatten noch viele Staaten erklärt, dass die Energiewende zu teuer sei. Diese Einstellung hat sich mittlerweile verändert.

W_3_Baerbock_Schiff_c_FM_Wagner

Absolut. Ein Viertel der weltweiten Stromnachfrage wird durch erneuerbare Energien gedeckt. Wir Deutsche waren mal führend, sind nun aber ins Mittelmaß abgerutscht. Bei uns liegt der Anteil bei rund 30 Prozent Erneuerbare im Strom, Italien hat über 40 Prozent, Regionen wie Costa Rica oder Neuseeland liegen bei fast 100 Prozent, selbst China hat uns überholt. Das heißt, es ist nicht nur eine ökologische, sondern auch eine ökonomische Frage, ob wir als Deutsche, das, was wir vor zehn Jahren in Form von Technologieförderung ja auch maßgeblich mitfinanziert haben, nun auch ernten. Oder ob wir die Rolle rückwärts machen – zulasten unserer Volkswirtschaft.

Was erwarten Sie jetzt eigentlich beispielswiese im Bereich Elektroautos von der Bundesregierung?

Eine Anreizpolitik, etwa ein Zuschuss beim Kauf eines Elektrofahrzeugs, ist ein erster richtiger Schritt. Aber eben nur ein erster. Die Bundesregierung muss der deutschen Automobilindustrie – gerade im Lichte des Abgasbetrugs – vielmehr unmissverständlich klar machen, dass sie sich generell umzustellen hat. Wenn wir die Klimaziele ernst nehmen, dann müssen wir in den nächsten 20 Jahren auch raus aus den fossilen Verbrennungsmotoren. Und wenn es der Bundesverkehrsminister nicht tut, dann macht es der Bürgermeister von Shanghai oder einer anderen chinesischen Großstadt.

Wie meinen Sie das?

Die Bewohner chinesischer Großstädte leiden ja massiv unter der katastrophalen Luftverschmutzung, daher muss die Regierung etwas tun. Millionen Autos, deren Abgasausstoß zu hoch war, wurden bereits aus dem Verkehr gezogen. Und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis der erste smoggeplagte Bürgermeister jegliche fossile Verbrennungsmotoren aus der Stadt verbannt. Und das wird dann auch ein Riesenproblem für die deutsche Exportpolitik im Automobilbereich. Also auch daher ein ganz heißes Thema für den Wirtschafts- und auch Verkehrsminister, wenn man volkswirtschaftlich vorne sein will. Wir haben dies ja schon bei den Hybridfahrzeugen erlebt, dass die deutsche Automobilindustrie den Trend verpasst hat und Toyota und andere Firmen die Nase vorn haben.

Halten Sie es für realistisch, dass ein chinesischer Bürgermeister ein Verbot für fossile Verbrennungsmotoren ausspricht und ein deutscher Fahrzeughersteller dann Probleme bekommt?

Ja, absolut. Im Moped- und Motorradbereich wurde damit schon begonnen, dass nur noch Elektrofahrzeuge in die Städte hineinfahren dürfen. Und der nächste Schritt sind die Autos. Es ist nicht immer der Klimaschutz, um den es dort geht. Es gibt vielmehr das Problem, dass Menschen nicht ohne Mundschutz auf die Straße können und die Kinder in den Städten keinen blauen Himmel kennen. Deswegen muss gehandelt werden. Und natürlich trifft das dann auch deutsche Automobilhersteller. China ist seit Jahren der größte Absatzmarkt deutscher Fahrzeughersteller. Etwa die Hälfte des gesamten VW-Gewinns stammt aus China. Die Frage ist, wie lange das so bleibt, wenn VW nicht die Zeichen der Zeit erkennt.

Interview: Frank M. Wagner

„Jederzeit weltweit bereit“

Deutschland schickt erneut Soldaten in den Krieg. Natürlich ist das Thema, als Kanzlerin Angela Merkel im Herbst 2015 im ostfriesischen Leer eine Sanitätseinheit besucht. Die Soldaten hier machen sich nichts vor. Auch sie waren schon im Kriegseinsatz. Auch sie haben Tote zu beklagen. Sollte der Marschbefehl kommen, wären die Soldaten innerhalb von 72 Stunden bereit für den Kampf.

Von Frank M. Wagner

Wer an diesem Montagmorgen mit dem Auto in die ostfriesische Stadt Leer hineinfahren möchte, braucht viel Geduld. Auf der Leda-Brücke, der Hauptzufahrtsstraße aus den östlich gelegenen Gemeinden des Landkreises, herrscht Stau: Mehr als 100 Landwirte nutzen den Besuch der Bundeskanzlerin, um vor Ort für bessere Milchpreise zu demonstrieren. Seit Stunden schon donnern sie mit ihren großen Treckern über die Zufahrtswege zur Evenburg-Kaserne, in der Merkel heute das „Kommando Schnelle Einsatzkräfte Sanitätsdienst“ (kurz: Kdo SES) besuchen will, um sich einen Eindruck von dessen Leistungsspektrum zu verschaffen. In der hiesigen Kaserne lernen die Sanitätsdienst-Soldaten, wie sie ihre Kameraden bei sogenannten „Eingreifoperationen“ bestmöglich unterstützen und humanitäre Hilfe leisten. Darüber hinaus können die sanitätsdienstlichen Einsatzkräfte wie etwa Chirurgen, Krankenpfleger, Kraftfahrer und dergleichen mehr, auch zur Landes- und Bündnisverteidigung (NATO) eingesetzt werden. Geladene Gäste und Journalisten, die es trotz des Staus noch pünktlich bis zum Kasernentor geschafft haben, werden dort zunächst vom Kasernenfeldwebel und zwei weiteren Soldaten, Hauptmann und Unteroffizier, begrüßt. Sie überprüfen die Gültigkeit der Ausweise und gleichen diese mit der Namensliste ab.

Der Hauptmann erläutert den Weg zum Parkplatz, der für die Pressevertreter reserviert ist. Zugleich macht er allerdings klar, dass ein eigenständiges Herumfahren auf dem Kasernengelände nicht vorgesehen
ist: „Sie fahren jetzt einfach hinter mir her“, stellt er klar und nimmt sofort zügig Schritt auf, so dass der Journalist fast Mühe hat, den Gang einzulegen und ihm zu folgen. Bewährte Bundeswehr-Sprüche wie „Männer, das geht zügig“ oder auch „Wer nicht führt, wird geführt!“ schießen einem durch den Kopf. Der zackig auftretende Hauptmann verkörpert sie offensichtlich alle in seiner Person.

Bundeskanzerlin Merkel im OP-Saal eines mobilen Lazaretts (c) Foto: Frank M. Wagner

Am Ziel angekommen erwartet die Besucher eine 2.250 Quadratmeter große Ausbildungshalle, in der das Auf- und Abbauen von mobilen Lazaretten geübt wird. Baukosten: 2,5 Millionen Euro. Vor dem Stahlbetongebäude haben die Soldaten gleich mehrere, gut beheizte Zelte aufgebaut, die als Pressezentrum dienen. Die weißen Zelte sind bundeswehrüblich mit einem Tarnnetz abgedeckt. Das für die Journalisten bereitgestellte
WLAN funktioniert stabil, schließlich sollen die Bilder vom Besuch der Kanzlerin schnell in die Redaktionen geschickt werden können. Emsige Sanitätssoldaten versorgen die Besucher mit belegten Brötchen und klassischer Gulaschsuppe – standesgemäß vom Feldkochherd – aus der Kasernengastronomie, die man hier „Truppenküche“ nennt. Einzig der später gereichte Kuchen stammt von einer im Landkreis beheimateten Bäckerei.

Mit einer Verspätung von 60 Minuten trifft die Kanzlerin ein. Sie muss über den Hintereingang auf das Kasernengelände fahren. Ein Teilerfolg für die demonstrierenden Bauern, die nun ein lautstarkes Hup-Konzert veranstalten. Zu einem direkten Gespräch zwischen Bundeskanzlerin und Bauern kommt es allerdings nicht. In der akustisch gut abgeschirmten Halle stehen derweil die Soldaten stramm in Reih und Glied. Sie werden hier gleich binnen 30 Minuten ein sogenanntes „Basismodul“ (also ein OP-Zelt) aufbauen, das in der „Forward Area“ (Kampfgebiet) genutzt wird, um die absolute Erstversorgung verwundeter Menschen sicherzustellen. Auf einem handelsüblichen OP-Tisch können hier beispielsweise großflächige, stark blutende Wunden versorgt werden. Eigens im Zelt verlegte Belüftungsschläuche sorgen für eine saubere, sterile Atmosphäre. Ein voll funktionsfähiger Operationssaalwie er auch im zivilen Leben nicht besser ausgestattet sein könnte. So kann die Überlebenschance Verwundeter deutlich verbessert werden.

„Ich gebe Ihnen mal stellvertretend für alle anderen die Hand“, sagt die Bundeskanzlerin, als sie einen der Soldaten, die für die Errichtung des Basismoduls zuständig sind, begrüßt. Während Merkel sich jetzt in den anderen, bereits in der Halle aufgestellten Zelten Operationsräume und Labore anschaut, bauen zehn Einsatzkräfte parallel das Basismodul auf. Ihre Sturmgewehre haben sie dazu abgelegt, die mehrere Kilogramm schweren Schusswesten tragen sie aber genauso wie ihre Pistolen aus Sicherheitsgründen auch während des Aufbaus weiter am Mann beziehungsweise an der Frau. Keine Frage, an hochwertiger Ausrüstung und Kompetenz der Soldaten, die das Basismodul samt aller OP-Bestandteile sogar in deutlich kürzerer Zeit als den vorgesehenen 30 Minuten aufbauen, mangelt es nicht. Doch wie steht es mit der Bereitschaft der Soldaten, neben Afghanistan und Mali eventuell auch nach Syrien zu gehen?

Der Hauptmann hat bereits zwei Kameraden verloren

„Jeder wird Ihnen sagen: Das ist unser Job! Es ist auch einfach, weil wir darauf vorbereitet sind, egal was es ist“, sagt Hauptmann Heiko Holzapfel. Der Offizier trägt seine Dienstpistole fest um den rechten Oberschenkel geschnallt, sein Haupt ist genauso akkurat rasiert wie sein schmaler Kinnbart. „Ob es nun der Balkan war oder Afghanistan, Somalia, Mali und so weiter: Das ist für uns eine Auftragslage, auf die wir vorbereitet werden. Und dann setzen wir das mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln so gut wie wir können um“.

In seinem Afghanistan-Einsatz hat der Offizier bereits einen Kameraden verloren, ebenso auch in Jugoslawien. „Sicherlich nimmt es einen mit, man ist traurig und niedergeschlagen. Es ist ungefähr so, als wenn Sie einen nahestehenden Familienangehörigen verloren haben.“ Als Soldat sei man eben Teil eines Teams, und dieses Team schweiße zusammen. „Und ein Einsatz schweißt dann nochmal mehr zusammen als die Situation im Heimatland. Denn da ist man eben noch mehr aufeinander angewiesen.“

„Die Angst sollte kontrollierbar sein“

Angst herrsche bei der Bewältigung der Aufgaben im Einsatz trotz des Verlusts von Kameraden nicht vor. „Angst sollte jeder Mensch haben, aber die Angst sollte kontrollierbar sein. Das, wovon man dagegen mehr haben sollte, ist der Respekt. Wenn man zu viel Angst hat, macht man Fehler.“

Die Leeraner Soldaten vertrauen bei dem eventuell auch für sie bevorstehenden Syrien-Einsatz auf die Kanzlerin und deren Berater. Schließlich sei die Lage erkundet (militärisch formuliert: „aufgeklärt“) und viele Menschen hätten sich im Vorfeld entsprechend Gedanken gemacht und den Einsatz für gut gefunden. Insoweit habe die Sache Nährwert und man könne damit arbeiten, heißt es von allen Leeraner Befragten zur Entscheidung des Bundestages, deutsche Soldaten nach Syrien zu schicken.

Letztendlich sind die Soldatinnen und Soldaten dafür da, um tatsächlich auch in die Einsätze zu gehen, die die Politik beschließt. „Das ist unser Beruf, und so professionell, denke ich, sind wir alle, dass wir damit umgehen können“, betont Oberstleutnant Matthias Frank, „auch wenn ich keinen gehört habe, der gerufen hat: ‚Juhu, ein neuer Einsatz‘. Das dürfte auch klar sein“, ergänzt er. Als Pressestabsoffizier des Kommandos SES war der Ehemann und Vater von zwei Kindern bereits in Bosnien- Herzegowina, Georgien, im Kosovo und auch bei der Ebola-Mission in Liberia im Einsatz.

Die Kritik an dem Einsatz, etwa das fehlende UNO-Mandat oder die – zumindest oft zitierte – fehlende Strategie zur Bekämpfung des IS, teilt man am Standort Leer nicht, wie Flottenarzt Dirk Möllmann, Kommandeur des Kommandos SES deutlich macht. „Was zurzeit im Nordirak und in Syrien passiert, ist himmelschreiende, menschenverachtende Vernichtungspolitik unter dem Vorwand religiöser Gründe. Inwieweit man da zuschauen kann – egal ob man Soldat ist oder nicht – das ist eher die Frage, die man sich stellen sollte.“

Die Bundeskanzlerin hat ihren Rundgang mittlerweile beendet, der Schlachtruf der Sanitätssoldaten „Jederzeit weltweit bereit“ ist verhallt, die Bauern vor der Kaserne haben ihre Plakate mit der Aufschrift „Mindestlohn auch für uns“ eingerollt. Einige von ihnen haben nun ein Strafverfahren wegen Nötigung am Hals. Angela Merkel kann jedenfalls ungehindert aus der Kaserne abziehen. Die Kameraden, die Deutschland in anderer Weise als die Bundeskanzlerin dienen, bleiben zurück. Ihre Zukunft ist ungewiss. Doch wenn die Namen der hier in Leer Dienst leistenden Soldaten auf der nächsten Anforderungsliste für Syrien stehen, werden sie gehen. Befehl ist eben Befehl.