„Jederzeit weltweit bereit“
Deutschland schickt erneut Soldaten in den Krieg. Natürlich ist das Thema, als Kanzlerin Angela Merkel im Herbst 2015 im ostfriesischen Leer eine Sanitätseinheit besucht. Die Soldaten hier machen sich nichts vor. Auch sie waren schon im Kriegseinsatz. Auch sie haben Tote zu beklagen. Sollte der Marschbefehl kommen, wären die Soldaten innerhalb von 72 Stunden bereit für den Kampf.
Von Frank M. Wagner
Wer an diesem Montagmorgen mit dem Auto in die ostfriesische Stadt Leer hineinfahren möchte, braucht viel Geduld. Auf der Leda-Brücke, der Hauptzufahrtsstraße aus den östlich gelegenen Gemeinden des Landkreises, herrscht Stau: Mehr als 100 Landwirte nutzen den Besuch der Bundeskanzlerin, um vor Ort für bessere Milchpreise zu demonstrieren. Seit Stunden schon donnern sie mit ihren großen Treckern über die Zufahrtswege zur Evenburg-Kaserne, in der Merkel heute das „Kommando Schnelle Einsatzkräfte Sanitätsdienst“ (kurz: Kdo SES) besuchen will, um sich einen Eindruck von dessen Leistungsspektrum zu verschaffen. In der hiesigen Kaserne lernen die Sanitätsdienst-Soldaten, wie sie ihre Kameraden bei sogenannten „Eingreifoperationen“ bestmöglich unterstützen und humanitäre Hilfe leisten. Darüber hinaus können die sanitätsdienstlichen Einsatzkräfte wie etwa Chirurgen, Krankenpfleger, Kraftfahrer und dergleichen mehr, auch zur Landes- und Bündnisverteidigung (NATO) eingesetzt werden. Geladene Gäste und Journalisten, die es trotz des Staus noch pünktlich bis zum Kasernentor geschafft haben, werden dort zunächst vom Kasernenfeldwebel und zwei weiteren Soldaten, Hauptmann und Unteroffizier, begrüßt. Sie überprüfen die Gültigkeit der Ausweise und gleichen diese mit der Namensliste ab.
Der Hauptmann erläutert den Weg zum Parkplatz, der für die Pressevertreter reserviert ist. Zugleich macht er allerdings klar, dass ein eigenständiges Herumfahren auf dem Kasernengelände nicht vorgesehen
ist: „Sie fahren jetzt einfach hinter mir her“, stellt er klar und nimmt sofort zügig Schritt auf, so dass der Journalist fast Mühe hat, den Gang einzulegen und ihm zu folgen. Bewährte Bundeswehr-Sprüche wie „Männer, das geht zügig“ oder auch „Wer nicht führt, wird geführt!“ schießen einem durch den Kopf. Der zackig auftretende Hauptmann verkörpert sie offensichtlich alle in seiner Person.
Am Ziel angekommen erwartet die Besucher eine 2.250 Quadratmeter große Ausbildungshalle, in der das Auf- und Abbauen von mobilen Lazaretten geübt wird. Baukosten: 2,5 Millionen Euro. Vor dem Stahlbetongebäude haben die Soldaten gleich mehrere, gut beheizte Zelte aufgebaut, die als Pressezentrum dienen. Die weißen Zelte sind bundeswehrüblich mit einem Tarnnetz abgedeckt. Das für die Journalisten bereitgestellte
WLAN funktioniert stabil, schließlich sollen die Bilder vom Besuch der Kanzlerin schnell in die Redaktionen geschickt werden können. Emsige Sanitätssoldaten versorgen die Besucher mit belegten Brötchen und klassischer Gulaschsuppe – standesgemäß vom Feldkochherd – aus der Kasernengastronomie, die man hier „Truppenküche“ nennt. Einzig der später gereichte Kuchen stammt von einer im Landkreis beheimateten Bäckerei.
Mit einer Verspätung von 60 Minuten trifft die Kanzlerin ein. Sie muss über den Hintereingang auf das Kasernengelände fahren. Ein Teilerfolg für die demonstrierenden Bauern, die nun ein lautstarkes Hup-Konzert veranstalten. Zu einem direkten Gespräch zwischen Bundeskanzlerin und Bauern kommt es allerdings nicht. In der akustisch gut abgeschirmten Halle stehen derweil die Soldaten stramm in Reih und Glied. Sie werden hier gleich binnen 30 Minuten ein sogenanntes „Basismodul“ (also ein OP-Zelt) aufbauen, das in der „Forward Area“ (Kampfgebiet) genutzt wird, um die absolute Erstversorgung verwundeter Menschen sicherzustellen. Auf einem handelsüblichen OP-Tisch können hier beispielsweise großflächige, stark blutende Wunden versorgt werden. Eigens im Zelt verlegte Belüftungsschläuche sorgen für eine saubere, sterile Atmosphäre. Ein voll funktionsfähiger Operationssaalwie er auch im zivilen Leben nicht besser ausgestattet sein könnte. So kann die Überlebenschance Verwundeter deutlich verbessert werden.
„Ich gebe Ihnen mal stellvertretend für alle anderen die Hand“, sagt die Bundeskanzlerin, als sie einen der Soldaten, die für die Errichtung des Basismoduls zuständig sind, begrüßt. Während Merkel sich jetzt in den anderen, bereits in der Halle aufgestellten Zelten Operationsräume und Labore anschaut, bauen zehn Einsatzkräfte parallel das Basismodul auf. Ihre Sturmgewehre haben sie dazu abgelegt, die mehrere Kilogramm schweren Schusswesten tragen sie aber genauso wie ihre Pistolen aus Sicherheitsgründen auch während des Aufbaus weiter am Mann beziehungsweise an der Frau. Keine Frage, an hochwertiger Ausrüstung und Kompetenz der Soldaten, die das Basismodul samt aller OP-Bestandteile sogar in deutlich kürzerer Zeit als den vorgesehenen 30 Minuten aufbauen, mangelt es nicht. Doch wie steht es mit der Bereitschaft der Soldaten, neben Afghanistan und Mali eventuell auch nach Syrien zu gehen?
Der Hauptmann hat bereits zwei Kameraden verloren
„Jeder wird Ihnen sagen: Das ist unser Job! Es ist auch einfach, weil wir darauf vorbereitet sind, egal was es ist“, sagt Hauptmann Heiko Holzapfel. Der Offizier trägt seine Dienstpistole fest um den rechten Oberschenkel geschnallt, sein Haupt ist genauso akkurat rasiert wie sein schmaler Kinnbart. „Ob es nun der Balkan war oder Afghanistan, Somalia, Mali und so weiter: Das ist für uns eine Auftragslage, auf die wir vorbereitet werden. Und dann setzen wir das mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln so gut wie wir können um“.
In seinem Afghanistan-Einsatz hat der Offizier bereits einen Kameraden verloren, ebenso auch in Jugoslawien. „Sicherlich nimmt es einen mit, man ist traurig und niedergeschlagen. Es ist ungefähr so, als wenn Sie einen nahestehenden Familienangehörigen verloren haben.“ Als Soldat sei man eben Teil eines Teams, und dieses Team schweiße zusammen. „Und ein Einsatz schweißt dann nochmal mehr zusammen als die Situation im Heimatland. Denn da ist man eben noch mehr aufeinander angewiesen.“
„Die Angst sollte kontrollierbar sein“
Angst herrsche bei der Bewältigung der Aufgaben im Einsatz trotz des Verlusts von Kameraden nicht vor. „Angst sollte jeder Mensch haben, aber die Angst sollte kontrollierbar sein. Das, wovon man dagegen mehr haben sollte, ist der Respekt. Wenn man zu viel Angst hat, macht man Fehler.“
Die Leeraner Soldaten vertrauen bei dem eventuell auch für sie bevorstehenden Syrien-Einsatz auf die Kanzlerin und deren Berater. Schließlich sei die Lage erkundet (militärisch formuliert: „aufgeklärt“) und viele Menschen hätten sich im Vorfeld entsprechend Gedanken gemacht und den Einsatz für gut gefunden. Insoweit habe die Sache Nährwert und man könne damit arbeiten, heißt es von allen Leeraner Befragten zur Entscheidung des Bundestages, deutsche Soldaten nach Syrien zu schicken.
Letztendlich sind die Soldatinnen und Soldaten dafür da, um tatsächlich auch in die Einsätze zu gehen, die die Politik beschließt. „Das ist unser Beruf, und so professionell, denke ich, sind wir alle, dass wir damit umgehen können“, betont Oberstleutnant Matthias Frank, „auch wenn ich keinen gehört habe, der gerufen hat: ‚Juhu, ein neuer Einsatz‘. Das dürfte auch klar sein“, ergänzt er. Als Pressestabsoffizier des Kommandos SES war der Ehemann und Vater von zwei Kindern bereits in Bosnien- Herzegowina, Georgien, im Kosovo und auch bei der Ebola-Mission in Liberia im Einsatz.
Die Kritik an dem Einsatz, etwa das fehlende UNO-Mandat oder die – zumindest oft zitierte – fehlende Strategie zur Bekämpfung des IS, teilt man am Standort Leer nicht, wie Flottenarzt Dirk Möllmann, Kommandeur des Kommandos SES deutlich macht. „Was zurzeit im Nordirak und in Syrien passiert, ist himmelschreiende, menschenverachtende Vernichtungspolitik unter dem Vorwand religiöser Gründe. Inwieweit man da zuschauen kann – egal ob man Soldat ist oder nicht – das ist eher die Frage, die man sich stellen sollte.“
Die Bundeskanzlerin hat ihren Rundgang mittlerweile beendet, der Schlachtruf der Sanitätssoldaten „Jederzeit weltweit bereit“ ist verhallt, die Bauern vor der Kaserne haben ihre Plakate mit der Aufschrift „Mindestlohn auch für uns“ eingerollt. Einige von ihnen haben nun ein Strafverfahren wegen Nötigung am Hals. Angela Merkel kann jedenfalls ungehindert aus der Kaserne abziehen. Die Kameraden, die Deutschland in anderer Weise als die Bundeskanzlerin dienen, bleiben zurück. Ihre Zukunft ist ungewiss. Doch wenn die Namen der hier in Leer Dienst leistenden Soldaten auf der nächsten Anforderungsliste für Syrien stehen, werden sie gehen. Befehl ist eben Befehl.