Die Reinickendorfer lieben Tegel – auch am Kurt-Schumacher-Platz: Ein Nachmittag an der wohl lautesten Einflugschneise des Flughafens fördert interessante Meinungen zu Tage. Sie nähren Zweifel an der Entscheidung, TXL zu schließen.
von Frank Wagner
„Entschuldigung, darf ich Sie mal fragen, wie Sie zur Schließung des Flughafens Tegel stehen?“ – „Waaas?“ ruft die etwa 50-jährige Dame, die mir auf dem Kurt-Schumacher-Platz entgegenkommt. Sie kann meine Frage nicht sofort verstehen, denn über uns donnert gerade die Drei-Uhr-Maschine der Air Berlin nach Düsseldorf hinweg. Der Airbus A 320 gehört zu den mittelgroßen und damit auch mittellauten Flugzeugen hier in der Einflugschneise am „Kutschi“ in Reinickendorf. Und eigentlich hätte er bereits vor 21 Minuten über das unter ihm liegende Einkaufszentrum „Der Clou“ hinwegfliegen sollen. Jetzt kommt die Dame endlich zu Wort: „Also mich stört es nicht“, gibt sie zu Protokoll. „Und wenn einer just in dem Moment des Überflugs eine Frage stellt, muss er sie halt zweimal stellen“, schmunzelt sie verschmitzt.
Weiter geht’s zum nächsten Passanten, einem wohlgekleideten Mann Mitte 40, mit kleinem Reisekoffer. Er wirkt ein wenig gehetzt: „Ich bin selbst gebürtiger Reinickendorfer und wohne jetzt Richtung Schönholz raus. Was mich an Tegel stört, ist die schlechte Anbindung, immer diese Umsteigerei von der Bahn in den Bus. Klappt so gut wie nie.“ An den Fluglärm habe er sich jedoch gewöhnt. „Das ist bei uns ja quasi auch die Verlängerung der Landebahn. Machst‘e den Fernseher dann halt mal lauter.“ Dann verabschiedet er sich schnell, denn er muss tatsächlich direkt zum Flughafen. Um 16:45 Uhr geht’s für ihn mit einem A 319 der Germanwings zu einem abendlichen Vortrag nach Köln. Ein Regenschauer setzt ein und macht eine weitere Befragung erstmal unmöglich.
„TraVis“ verrät, wie laut es ist
Zeit genug, um zu recherchieren, wie laut es hier eigentlich wirklich ist. Die Flughafengesellschaft FBB hat dazu ein eigenes Informationstool im Internet bereitgestellt: „TraVis“ (http://travistxl.topsonic.aero/). Die Webseite liefert die aktuellen Flugbewegungen und Fluglärmmessdaten mit nur wenigen Minuten Verzögerung. Dazu kann der Nutzer seinen Wohnort mit einem frei auf der Berlin-Karte positionierbaren Haus-Symbol genau auswählen und nachvollziehen, in welcher Höhe eine Maschine das eigene Haus überflogen hat, wie groß die Entfernung des Hauses von der Grundfluglinie war und vor allem wieviel Dezibel Lärm das Flugzeug generiert hat. Darüber hinaus gibt es sogar noch eine Archivfunktion, die es ermöglicht, auch in der Vergangenheit liegende Lärmereignisse zu analysieren. Eine prima Spielerei mit ernsthaftem Hintergrund. Die zum Kurt-Schumacher-Platz offenbar nächstgelegene der insgesamt acht Dezibel-Messstationen steht in der Meteorstraße und zeigt etwa für den 12. Oktober um 13:20 Uhr einen maximalen Schalldruckpegel von satten 92,1 dB(A) an. Zu dieser Uhrzeit überflog der große Airbus A 330 von Air Berlin den „Kutschi“, um sich zu einer Interkontinentalreise über den Atlantik aufzumachen. Zum Vergleich: Ein Gespräch liegt bei 60db(A), Flüstern bei 30 db(A). Dieser Airbus ist also schon ganz schön laut. Aber dafür ist Berlin eben auch eine Weltstadt und nicht Leer in Ostfriesland. Und machen wir uns nichts vor: In Jamaica, dem Ortsteil des New Yorker Stadtteils Queens, in dem der A 330 morgen Abend seine Rückreise antritt, wird er auch nicht leiser starten als hier am Berliner Kurt-Schumacher-Platz. Andere Maschinen erreichen hier etwa 85,2 dB(A) oder sogar „nur“ 75,7 dB(A). Klingt nicht wirklich nach deutlich weniger Lärm. Ist es aber. Denn die Maßeinheit db(A) gibt einen logarithmischen Wert an, das heißt: Steigt der Schalldruckpegel um 10dB(A), bedeutet dies eine Verdoppelung der wahrgenommenen Lautstärke.
In Tegel gibt es keine Jumbojets
„Die größeren Maschinen sind aber die große Ausnahme in Tegel“, meint eine 70-jährige Dame, mit der ich spreche, als die Sonne wieder hinter den Wolken hervortritt. Sie hat recht: Insgesamt fliegen meist nur sechs größere Airbus A330-Maschinen (oder das so genannte „Konkurrenzmuster“: eine Boeing 767) pro Tag von Tegel nach New York, Chicago, Doha, Istanbul und Abu Dhabi, manchmal auch nach Peking. Der Rest sind kleinere Maschinen, im Wesentlichen Airbus 319 bis 321 und ein paar Privatjets. Die richtig großen, vierstrahligen Jumbojets, wie die legendäre Boeing 747, heben überhaupt nicht in Tegel ab. „Es sei denn, der amerikanische Präsident kommt alle fünf, sechs Jahre mal hier vorbei“, begeistert sich die Dame, die 2012 live bei der Landung von Obamas „Air Force One“ in Tegel vor Ort war.
Umkehr der Betriebsrichtung = weniger Lärm
„Aber heute ist es hier doch sowieso nicht so laut wie an anderen Tagen“, mischt sich ein Mittvierziger in das Gespräch ein. Wie das kommt, möchte ich wissen: „Na, weil die Startrichtung jetzt umgekehrt ist. Die Maschinen sind leiser, wenn sie über dem Kutschi starten, als wenn sie im tiefen Landeanflug hier runterkommen.“ Klingt logisch, denn ein Flugzeug gewinnt beim Start zügig an Höhe und ist daher schnell weit vom Ohr der Passanten entfernt. Bei der Landung hingegen verliert es dagegen stetig an Höhe und fliegt wesentlich tiefer über die Köpfe der Reinickendorfer hinweg.
Nach einigen weiteren Passanten naht der letzte Kandidat für meine Befragung. Ein Bauarbeiter mit Arbeitskleidung und ein paar Werkzeugen an seinem Gürtel: „Ick bin nur hier, weil ich da hinten uff‘m Bau arbeiten muss. Bin froh, wenn det bald vorbei ist. Fallen Dir ja de Ohren ab! Zum Glück habe ich die hier“, sagt er und zeigt grinsend auf seine großen Ohrschützer im Mickey-Maus-Format.
Die große Mehrheit ist pro Tegel
Von insgesamt 30 Befragten sprachen sich nur 7 für die Schließung von Tegel aus. 23 dagegen wollen den Kult-Flughafen gerne für immer offen halten, das entspricht 76,7 Prozent. Das Ergebnis deckt sich ziemlich genau mit den Zahlen der Initiative „Berlin braucht Tegel“ (74 Prozent der Reinickendorfer pro), bleibt jedoch etwas hinter der Umfrage der Zeitung „B.Z.“ zurück, die sogar 89,3 Prozent der Berliner Bürger pro Tegel gesehen hatte. Der Flughafen Tegel erfreut sich offenbar weiter ungebrochener Beliebtheit. Wer freiwillig hier lebt oder arbeitet, hat sich mit dem Lärm meist arrangiert oder ist schlichtweg ein Flugzeug-Liebhaber.