Die SPD hat in den Zeiten vor der Großen Koalition bei europapolitischen Fragen stets mit Union und FDP gestimmt, auch wenn sie deren Haltung dabei heftig kritisiert hat. Inzwischen sind die Sozialdemokraten selbst Teil der Bundesregierung geworden und wollen ihre Kritik von damals nun in aktives Regierungshandeln umwandeln. In wie weit dies als Juniorpartner einer Großen Koalition gelingen kann, erklärt der für Europa zuständige Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Roth, im Interview mit Frank M. Wagner.

Wagner: Herr Staatsminister, es gibt diverse Wissenschaftler, die sagen: Die Krise in Europa ist nicht vorbei und sie wird sogar wiederkommen. Sehen Sie das auch so?

Staatsminister/AA Roth, MdB: Es sollte unsere gemeinsame Aufgabe sein, gerade auch im Vorfeld der Europawahlen,  auch positive Botschaften in Europa in den Vordergrund zu stellen. Das heißt nicht, dass man die gegenwärtige Lage besser redet, als sie tatsächlich ist. Aber viel schlimmer als die wirtschaftliche Krise ist die Identitäts- und schwere Vertrauenskrise und damit auch die politische Krise, in der sich die Europäische Union befindet. Für viele Bürgerinnen und Bürger, gleich aus welchem Land sie kommen, ist Europa mehr Teil des Problems als Teil der Lösung. Insofern haben überzeugte Europäer so wie ich viel zu tun, schließlich dürfen wir Europa nicht den Populisten und Extremisten überlassen.

Wagner: Stabilität ist also das Stichwort.

Staatsminister/AA Roth, MdB: Es hat sich in den Krisenländern im Hinblick auf die haushaltspolitischen Kennziffern ja Einiges zum Positiven gewendet, aber wir sind bei weitem noch nicht über dem Berg. Ich komme gerade aus Griechenland und da muss ich deutlich sagen: Die soziale Lage bleibt weiterhin dramatisch, die Jugendarbeitslosigkeit ist in vielen Staaten viel zu hoch. Wir brauchen mehr sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Und es ist unsere Aufgabe in der neuen Regierung dazu beizutragen, dass wir nicht mehr nur über den Euro und über die Wettbewerbsfähigkeit, sondern auch über die Stärkung der sozialen Dimension in der Europäischen Union sprechen.

Wagner: Das heißt, die Europolitik ist eine Mischung aus Finanzthemen und sozialen Themen?

Staatsminister/AA Roth, MdB: Zuallererst ist  die Europäische Union eine Werteunion. Unser Europa gründet sich vor allem auf Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Freiheit, Toleranz. Wenn es uns nicht gelingt, dieses politische Werteprojekt stärker in den Vordergrund zu rücken, dann haben wir ein dauerhaftes Legitimationsproblem. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten eben zurecht mehr als einen funktionierenden Binnenmarkt.

Wagner: Die Haltung der SPD zum Thema Europolitik war vor der Bundestagswahl ja eine etwas andere als die der CDU. Stichwort: „Eurobonds“, „Vergemeinschaftung von Schulden“ und dergleichen mehr. In wie weit kann die SPD jetzt einen Turnaround machen bzw. in wie weit verändert sich die Europolitik der SPD, nachdem sie ja jetzt Mitglied der Großen Koalition ist?

Staatsminister/AA Roth, MdB: Das europapolitische Kapitel im Koalitionsvertrag ist sehr stark davon geprägt, jetzt eine klare Politik für Wachstum und Beschäftigung zu gestalten, die den sozialen Zusammenhalt stärker in den Vordergrund rückt. Eine Politik, die die Auseinandersetzung mit den Populisten und Extremisten offensiv aufnimmt und eine Politik, die wertebasiert und nicht nur technokratisch vermittelt wird. Dem fühlt sich das Auswärtige Amt in besonderer Weise verpflichtet.

Wagner: Das heißt, Eurobonds sind jetzt kein Thema mehr?

Staatsminister/AA Roth, MdB: Selbstverständlich hat sich die SPD nicht mit Allem durchsetzen können. Aber mir ist es wichtiger, über Projekte und Ziele zu reden, als über Instrumente. Insofern waren die Eurobonds oder auch der Altschuldentilgungsfond ja nur ein Instrument, um die Solidaritätsunion zu stärken.

Wagner: Das aggressive Spardiktat der Kanzlerin haben Sie in Zeiten von Schwarz-Gelb ja stark kritisiert, auch wenn Sie damals – jedenfalls im Ergebnis – mit Union und FDP gestimmt haben. Heute bleiben Sie aber auch dabei, dass Sie sagen, Sparen alleine könne zum Beispiel Griechenland nicht wieder gesunden lassen.

Staatsminister/AA Roth, MdB: Wer sich die Lage in den Krisenländern, insbesondere in Spanien oder auch in Griechenland anschaut, der weiß: Selbstverständlich müssen die Strukturreformen konsequent fortgesetzt werden. Wir brauchen eine funktionierende Steuerverwaltung und eine moderne Bürokratie. Aber die Bürgerinnen und Bürger müssen spüren, dass sie nicht alleine die Hauptleidtragenden der Krisenpolitik sind. Insofern ist es wichtig, jetzt konsequent für Beschäftigung und für Wachstum zu arbeiten. Und da können auch wir einen Beitrag leisten. Nicht zuletzt haben wir es ja auch durchgesetzt, dass die Europäische Union für den Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit sechs Milliarden Euro in 2014 und 2015 zur Verfügung stellt. Das Geld muss jetzt investiert werden, es muss jetzt bei den jungen Leuten ankommen, damit diese mit Europa auch wieder ein Zukunftsversprechen verbinden.

Wagner: Sie sagen, der Bürger soll nicht der Hauptleidtragende sein. Tatsächlich ist es in Griechenland aber so, dass „die Reichen“ oder auch keine einzige Bank jemals zur Verantwortung gezogen wurden, sondern die Sparmaßnahmen vor allem am Sozialsystem ansetzten und damit insbesondere den „kleinen Mann“ trafen. Aber es ist nicht so, dass man wirklich Verantwortliche – wie Banken – zur Verantwortung gezogen hat. Dabei gab es aber doch früher genau diesen Ansatz der SPD, die gesagt hat: Da müssen wir ran!

Staatsminister/AA Roth, MdB: Dem muss ich erstmal widersprechen. Alleine schon durch den Schuldenschnitt sind ja gerade auch die Besitzer großer Ersparnisse belastet worden, die Steuern sind erhöht worden. Aber Sie haben selbstverständlich recht: Bei den Kürzungen von Sozialleistungen, Löhnen, Gehältern und Pensionen sind in erster Linie die kleinen Leute, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Rentnerinnen und Rentner und insbesondere auch die junge Generation überproportional belastet worden. Das Kapital hat sich verflüchtigt, die Millionäre und Milliardäre haben ihr Geld ins Ausland transferiert, das spürt man auch in Deutschland. Fragen Sie doch mal, wer hier in Berlin-Mitte die Wohnungen gekauft hat und damit auch dazu beigetragen hat, dass die Immobilienpreise in Berlin massiv gestiegen sind. Da ist sicher auch der eine oder andere reiche Grieche dabei. Also die Frage der sozialen Gerechtigkeit stellt sich für die gesamte Europäische Union. Die Zumutungen und weitere Lasten müssen für den Großteil der Durchschnittsbevölkerung beendet sein. Gleichzeitig aber sollen die Strukturreformen konsequent fortgesetzt werden. Das Krisenbewältigungsprogramm besteht aus mehreren Bausteinen. Das Ende der Fahnenstange ist bei sozialen Einschnitten erreicht. Bei den Strukturreformen sehe ich jedoch noch viel Luft nach oben. Im Übrigen wird mir das auch von den griechischen Partnern bestätigt.

Wagner: Sie waren ja gerade in Thessaloniki: Wir war Ihr Eindruck der Situation?

Staatsminister/AA Roth, MdB: Ich habe dort mit Kommunalpolitikern, insbesondere dem Oberbürgermeister der Stadt, aber auch mit arbeitslosen Jugendlichen und mit Verantwortlichen von Qualifizierungs- und Beschäftigungsinitiativen gesprochen. Und da kann ich unterm Strich nur sagen: Die soziale Lage bleibt dramatisch. Wir brauchen jetzt konkrete Angebote für die jungen Leute. Wir haben uns gerade heute in der Europastaatssekretärsrunde verpflichtet, innerhalb der Bundesregierung noch einmal ganz gezielt zu schauen: Wo und wie können wir in den nächsten Monaten konkret Griechenland helfen?

Wagner: Also muss man nicht davon ausgehen, dass jetzt quasi durch die Hintertür doch wieder Eurobonds oder die Vergemeinschaftung von Schulden in Frage kommen? Ist dies völlig ausgeschlossen und ist es nicht so, dass das Regierungshandeln der SPD ja insoweit jetzt mehr nicht die Aussagen der früheren Oppositions-SPD widerspiegelt?

Staatsminister/AA Roth, MdB: Ein Koalitionsprogramm ist ein Kompromissprogramm und ich beziehe mich in meinen Aussagen ausdrücklich auf den Koalitionsvertrag: Der gilt.

Wagner: Können Außenminister Steinmeier und auch Sie als Staatsminister jetzt sozialdemokratische Akzente in der Außenpolitik setzen? Wie setzen Sie sich vom Vorgänger Westerwelle ab?

Staatsminister/AA Roth, MdB: Wenn Sie sich hier die ersten Wochen im Auswärtigen Amt anschauen, dürften eine Fülle von Akzentverschiebungen und deutliche Hinweise auf einen Politikwechsel erkennbar sein. Das Auswärtige Amt treibt die deutsche Außen- und Europapolitik aktiv voran und das im Dialog auf Augenhöhe mit unseren Partnern. Die deutsch-französischen Beziehungen sind so gut wie schon lange nicht mehr. Das eröffnet die Chance, Europa insgesamt voranzubringen. Und wir haben gerade die sozialen Themen wieder auf die europäische Tagesordnung gesetzt. Die Chancen wollen wir jetzt nutzen und wir laden auch die Kolleginnen und Kollegen in der Europäischen Union dazu ein. Ich habe den Eindruck: Das kommt gut an.

Wagner: Wenn man sich den Koalitionsvertrag anschaut, dann fasse ich etwas verkürzt, aber vielleicht dennoch zutreffend zusammen: Frau Merkels Handschrift ist 1:1 enthalten, was die Frage der Europolitik angeht. Wenn Sie jetzt sagen: Wir als SPD bringen mit BM Steinmeier jetzt die soziale Frage wieder aufs Tapet, dann muss man doch jetzt vielleicht auch Folgendes erkennen: In vier Jahren hat die Regierung vielleicht eine gute Europolitik gemacht, bei der sich die SPD tatkräftig miteingebracht hat. Aber am Ende hilft es vielleicht doch wieder nur der Kanzlerin und sie erntet beim Wähler die Lorbeeren. Haben Sie vielleicht ein wenig Angst, dass man Ihre Erfolge der Kanzlerin zurechnen könnte?

Staatsminister/AA Roth, MdB: Bevor ich mir Gedanken darüber mache, wer für Erfolge verantwortlich gemacht wird, arbeite ich erst einmal kräftig für die Erfolge. Und eins ist klar: Der soziale und gesellschaftliche Zusammenhalt in Europa ist ein sozialdemokratisches Projekt und eine deutliche Akzentverschiebung. Jetzt geht’s in den nächsten Jahren darum, dass das für jene Bürgerinnen und Bürger in der Europäischen Union auch spürbar wird, die sich derzeit als Verlierer des europäischen Integrationsprozesses und der Krisenpolitik empfinden.

Wagner: Können Sie die wichtigsten Schritte, die man für dieses Ziel angehen muss, nennen?

Staatsminister/AA Roth, MdB: Der erste und wichtigste Schritt ist es, die EU wieder als Gemeinschaft zu verankern, die ihre Werte nicht nur auf dem Papier hat, sondern sie auch konkret lebt und ausfüllt. Zweiter Punkt: Wir nehmen den Kampf gegen die Massenarbeitslosigkeit von jungen Leuten entschieden auf und schaffen damit auch neues Vertrauen. Drittens: Wir arbeiten dafür, dass es neben einer Währungsunion zukünftig auch eine Wirtschaftsunion gibt, die verbindliche Ziele und Leitlinien für die Sozial-, Beschäftigungs-, Arbeitsmarkt- und Steuerpolitik beinhaltet. Viertens: Wir werden den sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhalt in der Europäischen Union ausbauen. Fünftens: Europa soll gerade auch in außen- und sicherheitspolitischen Fragen stärker mit einer Stimme sprechen. Da sind gerade auch die neuen gemeinsamen Projekte von Deutschland und Frankreich eine große Chance.

Von EIC